An Bord der »Couronne«.
Toulon, April 1876.
Heute nacht ist mein Zimmer ganz angefüllt mit mächtigen,
süß duftenden Blumensträußen. Die sind mir gestern Abend im
Zirkus zugeworfen worden, wo ich als Clown aufgetreten bin und
vor einem begeisterten Auditorium halsbrecherische Purzelbäume
schlug.
Einige Freunde, die ich ins Vertrauen gezogen hatte,
wohnten der Vorstellung bei, um mir einen Erfolg zu sichern.
Und einige Damen der Gesellschaft, die gekommen waren, mir
Beifall zu spenden, waren äußerst betreten, sich neben anderen
zu sehen, die nicht der Gesellschaft angehörten, mir aber doch
Blumen zuwarfen.
Das gab eine urdrollige Zusammenstellung und wir belachten
sie in den Kulissen mit den Kunstreiterinnen, – mit meiner
Freundin Pasqualine, genannt »der Stern des Nordens, der
unerreicht ist im Salto mortale«.
Es war ein prickelndes Erleben, das dieses Auftreten
gewährte. Um sieben Uhr kam ich an, als gerade die großen
Bogenlampen entzündet wurden.
»Herr Regisseur,« sagte ich, »ich fühle mich schwach
werden.«
»Aber der Herr steht doch auf dem Plakat,« erwidert diese
Persönlichkeit, die mich seit zwei Monaten wie zur Familie
gehörig betrachtet.
Die Vorstellung wird von einer wilden Nummer eingeleitet,
die Madame Hortensia auf ungesatteltem Pferd exekutiert. Und
gräßlich füllen sich die Reihen. Da sind meine Geladenen, da
der »Lyrische Verein« und Marineoffiziere mit ihren Frauen und
all ihrem Anhang, und jetzt kommen Damen der Halbwelt in
glänzender Kleidung. Unter den Mänteln werden Blumen versteckt
gehalten, eine Menge sehr umfangreicher Gebinde, doch bemerke
ich auch Pfeifchen und Kasserollen, kurz, all die notwendigen
Utensilien, die man braucht, um im Bedarfsfall furchtbare
Katzenmusik zu machen.
Die alte Vorsteherin vom »Lyrischen Verein« macht beim
Kommen ein etwas saueres Gesicht. Bald aber erfaßt sie die
Situation und lacht aus vollem Herzen. Ihre Tochter ist die
einzige Person im Publikum, deren Anwesenheit mir ein wenig
Unbehagen verursacht, denn sie ist reizend und wir sind sehr
gute Freunde. Ist meine Leistung nur mittelmäßig, so muß ich
ihr ungeheuer lächerlich erscheinen.
Die Kulisse des Zirkus steht auf einem weiten Kapernaum,
das einst die Arena eines Amphitheaters war, – kleine dunkle
Gänge, Leitern, Falltüren und hohe Gerüste. Es ist schwer zu
beschreiben, wie lustig manches ist, was sich hier begibt; die
Clowns der Truppe sind auch hinter dem Vorhang Spaßmacher und
komisch bis jenseits aller Möglichkeiten.
Die schöne Pasqualine (sechzehn Jahre alt), die Verlobte
des Kunstreiters Massi, wird von einer alten Statistin
beschuldigt, mit mir im besten Einverständnis zu sein.
Eifersuchtsszene, Nervenkrise, Ohnmachtsanfall ... Rührung,
Versöhnung bei einer Tasse Tee.
In ihrer Verwirrung stürzt die junge Primadonna angesichts
des gesamten Publikums, als ihr Salto mortale kaum begonnen
hat. So folgt eine Katastrophe der anderen.
Jetzt ist es Zeit, mich anzukleiden, was heftige
Ergriffenheit in mir auslöst. Hier ist mein Trikot, es ist
gelb und grün und kommt geraden Weges aus Mailand, von Carolo
Lorenzi, dem Erbauer aller fashionablen Akrobatengewänder. Ich
weiß nicht, wie in das Ding hineinkommen, – zwei Clowns
streifen es mir feierlich über. Es ist zum Platzen eng, doch
so will es die erlesenste Eleganz. Noch eine Badehose aus
schwarzem Samt, von einer Einfachheit, die mich schaudern
macht, mächtige Spitzenmanschetten, Spitzenkrause, eine grüne
Troddelperücke und eine Handvoll Mehl, – dann bin ich fertig.
Die Vettern (Zirkusleute sagen »Vetter« zueinander),
behaupten, ich sei prachtvoll.
»Vielleicht ein wenig zu dünn, Vetter?« fragte ich besorgt.
»O, Monsieur, wo denken Sie hin, so gut gebaut wie Sie
sind, mit gewölbter Brust und geraden Schultern! Wie schade,
daß Monsieur nicht einer der Unsern sind!«
Da muß ich voll Selbstgefälligkeit diesen Körper
betrachten, den meine Übungen geformt und umgeformt haben.
Überall springen die Muskeln hervor und sind durch das enge
Trikot im Relief wahrnehmbar. Ein alter Seiltänzer, der mit
allen koketten Geheimnissen des Handwerks vertraut ist,
verstärkt diese Wirkung noch, indem er die Konturen meiner
Muskeln mit Spindelbaumzweigen leicht verwischt. Diese
anatomische Toilette dauert zwanzig Minuten.
Der Regisseur kommt uns holen. – »Die Reihe ist an den
Herren,« sagt er. Ich bin bestimmt nicht schüchtern, doch
diese neue Rolle flößt mir Bangen ein.
Jetzt beginnt die Musik ein munteres Präludium, das packt
und mitreißt. Ich betrete die Szene. Stürmischer Applaus. Ich
grüße dreimal. Acht Vettern folgen mir Schritt für Schritt.
Doch meine Füße berühren den Boden kaum. Meine Muskeln
schnellen wie stählerne Federn: gleich eingangs ist der Erfolg
gesichert.
Seiltanz, halsbrecherische Sprünge herüber und hinüber,
Menschenpyramide, schwindelerregende Balancierübungen, alles
in allem eine Vorstellung, deren Nummern so zusammengestellt
wurden, daß mein Können sich im hellsten Lichte zeigen muß ...
Das wirkliche Publikum, das einen Moment lang durch diese
Kabbala irregeführt war, ist nun seinerseits hingerissen und
klatscht wie toll Beifall. Es ist ein richtiger Erfolg,
Blumen, Orangen und Kinderspielzeug prasseln unausgesetzt auf
mich nieder. Drei Hervorrufe, wüstes Getrampel, Triumph durch
eine ganze Viertelstunde. Selbst die Kunstreiterinnen
verlassen ihre Logen, um mir zuzujubeln. Die Situation hat
ihren Höhepunkt erreicht ...
Aus der Rede, die der Herr Regisseur hält, während man mich
entkleidet, und die einer tragisch-pathetischen
Apostrophierung gleichkommt:
»Was hat Sie zu uns verschlagen, Herr Offizier, und was
suchen Sie bei uns? Nun sind Sie unseresgleichen, die wir
nichts anderes haben als diese unsere Kunst. Doch nach der
Vorstellung sind wir arme Tröpfe, die im elenden Reisewagen
übernachten. Wie glücklich wäre ich, Herr, könnte ich heute
abend an Ihrer Stelle in das seidentapezierte Zimmer an Bord
der Fregatte zurück, wo Sie mir die Ehre erwiesen, mich zu
empfangen! O schöner Traum, dann morgen früh als
Marineoffizier zu erwachen!«
Einer meiner Freunde vom Schiff und seine Freundin Rose
erwarten mich um Mitternacht am Bühnentürchen. Hinter uns
schleppt ein Dienstmann meine Blumensträuße.
»Meine liebe Rose,« sage ich, »Sie sind ebenso für Ihr
häßliches Handwerk geschaffen wie ich für den Magistratsdienst
oder für den Stuhl Petri.«
Hierauf schwenkt unsere Unterhaltung in traurige Bahn und
schließlich sind wir alle drei in einer Stimmung, als wären
wir bei einem Begräbnis erster Klasse.
»Amen,« sagt Rose.
»Das walte Gott,« fügt der Dienstmann hinzu.