Auf fernen Meeren

Auf fernen Meeren

Tagebuchfragmente und Briefe

1924 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

An Bord der »Couronne«.

Toulon, April 1876.

Heute nacht ist mein Zimmer ganz angefüllt mit mächtigen, süß duftenden Blumensträußen. Die sind mir gestern Abend im Zirkus zugeworfen worden, wo ich als Clown aufgetreten bin und vor einem begeisterten Auditorium halsbrecherische Purzelbäume schlug.

Einige Freunde, die ich ins Vertrauen gezogen hatte, wohnten der Vorstellung bei, um mir einen Erfolg zu sichern. Und einige Damen der Gesellschaft, die gekommen waren, mir Beifall zu spenden, waren äußerst betreten, sich neben anderen zu sehen, die nicht der Gesellschaft angehörten, mir aber doch Blumen zuwarfen.

Das gab eine urdrollige Zusammenstellung und wir belachten sie in den Kulissen mit den Kunstreiterinnen, – mit meiner Freundin Pasqualine, genannt »der Stern des Nordens, der unerreicht ist im Salto mortale«.

Es war ein prickelndes Erleben, das dieses Auftreten gewährte. Um sieben Uhr kam ich an, als gerade die großen Bogenlampen entzündet wurden.

»Herr Regisseur,« sagte ich, »ich fühle mich schwach werden.«

»Aber der Herr steht doch auf dem Plakat,« erwidert diese Persönlichkeit, die mich seit zwei Monaten wie zur Familie gehörig betrachtet.

Die Vorstellung wird von einer wilden Nummer eingeleitet, die Madame Hortensia auf ungesatteltem Pferd exekutiert. Und gräßlich füllen sich die Reihen. Da sind meine Geladenen, da der »Lyrische Verein« und Marineoffiziere mit ihren Frauen und all ihrem Anhang, und jetzt kommen Damen der Halbwelt in glänzender Kleidung. Unter den Mänteln werden Blumen versteckt gehalten, eine Menge sehr umfangreicher Gebinde, doch bemerke ich auch Pfeifchen und Kasserollen, kurz, all die notwendigen Utensilien, die man braucht, um im Bedarfsfall furchtbare Katzenmusik zu machen.

Die alte Vorsteherin vom »Lyrischen Verein« macht beim Kommen ein etwas saueres Gesicht. Bald aber erfaßt sie die Situation und lacht aus vollem Herzen. Ihre Tochter ist die einzige Person im Publikum, deren Anwesenheit mir ein wenig Unbehagen verursacht, denn sie ist reizend und wir sind sehr gute Freunde. Ist meine Leistung nur mittelmäßig, so muß ich ihr ungeheuer lächerlich erscheinen.

Die Kulisse des Zirkus steht auf einem weiten Kapernaum, das einst die Arena eines Amphitheaters war, – kleine dunkle Gänge, Leitern, Falltüren und hohe Gerüste. Es ist schwer zu beschreiben, wie lustig manches ist, was sich hier begibt; die Clowns der Truppe sind auch hinter dem Vorhang Spaßmacher und komisch bis jenseits aller Möglichkeiten.

Die schöne Pasqualine (sechzehn Jahre alt), die Verlobte des Kunstreiters Massi, wird von einer alten Statistin beschuldigt, mit mir im besten Einverständnis zu sein. Eifersuchtsszene, Nervenkrise, Ohnmachtsanfall ... Rührung, Versöhnung bei einer Tasse Tee.

In ihrer Verwirrung stürzt die junge Primadonna angesichts des gesamten Publikums, als ihr Salto mortale kaum begonnen hat. So folgt eine Katastrophe der anderen.

Jetzt ist es Zeit, mich anzukleiden, was heftige Ergriffenheit in mir auslöst. Hier ist mein Trikot, es ist gelb und grün und kommt geraden Weges aus Mailand, von Carolo Lorenzi, dem Erbauer aller fashionablen Akrobatengewänder. Ich weiß nicht, wie in das Ding hineinkommen, – zwei Clowns streifen es mir feierlich über. Es ist zum Platzen eng, doch so will es die erlesenste Eleganz. Noch eine Badehose aus schwarzem Samt, von einer Einfachheit, die mich schaudern macht, mächtige Spitzenmanschetten, Spitzenkrause, eine grüne Troddelperücke und eine Handvoll Mehl, – dann bin ich fertig.

Die Vettern (Zirkusleute sagen »Vetter« zueinander), behaupten, ich sei prachtvoll.

»Vielleicht ein wenig zu dünn, Vetter?« fragte ich besorgt.

»O, Monsieur, wo denken Sie hin, so gut gebaut wie Sie sind, mit gewölbter Brust und geraden Schultern! Wie schade, daß Monsieur nicht einer der Unsern sind!«

Da muß ich voll Selbstgefälligkeit diesen Körper betrachten, den meine Übungen geformt und umgeformt haben. Überall springen die Muskeln hervor und sind durch das enge Trikot im Relief wahrnehmbar. Ein alter Seiltänzer, der mit allen koketten Geheimnissen des Handwerks vertraut ist, verstärkt diese Wirkung noch, indem er die Konturen meiner Muskeln mit Spindelbaumzweigen leicht verwischt. Diese anatomische Toilette dauert zwanzig Minuten.

Der Regisseur kommt uns holen. – »Die Reihe ist an den Herren,« sagt er. Ich bin bestimmt nicht schüchtern, doch diese neue Rolle flößt mir Bangen ein.

Jetzt beginnt die Musik ein munteres Präludium, das packt und mitreißt. Ich betrete die Szene. Stürmischer Applaus. Ich grüße dreimal. Acht Vettern folgen mir Schritt für Schritt. Doch meine Füße berühren den Boden kaum. Meine Muskeln schnellen wie stählerne Federn: gleich eingangs ist der Erfolg gesichert.

Seiltanz, halsbrecherische Sprünge herüber und hinüber, Menschenpyramide, schwindelerregende Balancierübungen, alles in allem eine Vorstellung, deren Nummern so zusammengestellt wurden, daß mein Können sich im hellsten Lichte zeigen muß ...

Das wirkliche Publikum, das einen Moment lang durch diese Kabbala irregeführt war, ist nun seinerseits hingerissen und klatscht wie toll Beifall. Es ist ein richtiger Erfolg, Blumen, Orangen und Kinderspielzeug prasseln unausgesetzt auf mich nieder. Drei Hervorrufe, wüstes Getrampel, Triumph durch eine ganze Viertelstunde. Selbst die Kunstreiterinnen verlassen ihre Logen, um mir zuzujubeln. Die Situation hat ihren Höhepunkt erreicht ...

Aus der Rede, die der Herr Regisseur hält, während man mich entkleidet, und die einer tragisch-pathetischen Apostrophierung gleichkommt:

»Was hat Sie zu uns verschlagen, Herr Offizier, und was suchen Sie bei uns? Nun sind Sie unseresgleichen, die wir nichts anderes haben als diese unsere Kunst. Doch nach der Vorstellung sind wir arme Tröpfe, die im elenden Reisewagen übernachten. Wie glücklich wäre ich, Herr, könnte ich heute abend an Ihrer Stelle in das seidentapezierte Zimmer an Bord der Fregatte zurück, wo Sie mir die Ehre erwiesen, mich zu empfangen! O schöner Traum, dann morgen früh als Marineoffizier zu erwachen!«

Einer meiner Freunde vom Schiff und seine Freundin Rose erwarten mich um Mitternacht am Bühnentürchen. Hinter uns schleppt ein Dienstmann meine Blumensträuße.

»Meine liebe Rose,« sage ich, »Sie sind ebenso für Ihr häßliches Handwerk geschaffen wie ich für den Magistratsdienst oder für den Stuhl Petri.«

Hierauf schwenkt unsere Unterhaltung in traurige Bahn und schließlich sind wir alle drei in einer Stimmung, als wären wir bei einem Begräbnis erster Klasse.

»Amen,« sagt Rose.

»Das walte Gott,« fügt der Dienstmann hinzu.

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