Auf fernen Meeren

Auf fernen Meeren

Tagebuchfragmente und Briefe

1924 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

Brief der Schwester Pierre Lotis.

Fontbruant, Februar 1878.

Geliebter Bruder!

Seit vielen Tagen frage ich mich, ob ich Dir wohl schreiben soll, um Dir mein übervolles Herz auszuschütten. Ich beginne Briefe zu schreiben und zerreiße sie wieder. Ich habe Angst vor Dir, ich habe Angst vor allem. Aber heute, – o nein! heute kann ich es nicht mehr zurückhalten. Was willst Du tun? Trittst Du in dieses Kloster ein, so kommst Du nicht mehr heraus. In Deiner Überspanntheit werden sie Dich überzeugen, und Du wirst wie gebannt zu ihnen zurückkehren!

Denk' nach, ich bitte Dich, ich verlange es auf beiden Knien; nicht für mich, doch Deiner Mutter wegen. Warte zumindest bis sie nicht mehr ist. Das wird vielleicht jetzt nicht mehr lange dauern, denn ich finde, sie ist sehr schwach, und die Aufregungen töten sie. Sie errät unbestimmt, was Du im Sinne führst, ohne ganz zu wissen, was ich weiß, und es zerreißt ihr den Glauben. Ihr Hugenottenherz, ihr Christenbewußtsein, alles leidet entsetzlich darunter – kannst Du Dir das gar nicht vorstellen?! Hörst Du nicht die bangen, schmerzzitternden Schläge des armen Mutterherzens?

Mitten unter meinen Lieben allen, in meinem friedlichen beschaulichen Leben, werde ich, die ich mich in wahrem Glück sonnen könnte, ununterbrochen gefoltert, und sehe ich, welchen Kummer Du Deiner armen alten Mutter bereitest, so leide ich zehnmal mehr um ihretwillen.

O habe Mitleid mit uns, ich bitte Dich darum! Du hast im Grund ein gutes Herz, bist menschlich gegen alle: Wirst Du nichts tun, uns unser Leid zu nehmen?

Was läge schließlich daran, wenn dies alles bestimmt wäre, Dich in Glück und Wahrheit zu geleiten! Aber nein, Du lebst in Qual und Herzensnot. Ich habe Angst, Du spürst es gut, und wohl um mich zu trösten wirfst Du mir mitleidslos Deinen ganzen Zynismus an den Kopf. Freu' Dich wieder, lieber Bruder, versinke nicht in einen Abgrund moralischer Not!

Was suchst Du in diesem Kloster? Du weißt wohl, daß dort nicht Wahrheit wohnt. Du wirst Dein Fleisch abtöten, und nur lodernder und ungebändigter werden Deine Leidenschaften aus dieser Kasteiung hervorgehen!

Weißt Du nicht, daß ein ruhiges, beschauliches, anständiges Leben mindestens so viel Freude, Intelligenz und Erhebung birgt als Dein friedloses, ungebundenes, romantisches und qualerfülltes Dasein?

Armer Liebling Du, der immer genarrt wird von Luftschlössern und Nebelgebilden! Manchmal hab' ich Dir noch folgen können, – im Anfang, als Du noch Ideen nachjagtest. Ich habe sogar Aziyade verstanden und habe um sie weinen müssen. Doch jetzt bist Du mir unverständlich geworden, und ich sehe in Dir nur noch den Eidbrüchigen, dessen sich alle Schrecknisse der Hölle bemächtigen.

Ich verbringe schlaflose Nächte, ich sage mir: »Ich will ihn nicht mehr lieb haben,« aber gerade diese Augenblicke sind es, in welchen mich die Sehnsucht heißer packt, Dich an mein Herz drücken zu können.

Wirst Du, ehe Du ins Kloster gehst, nach Fontbruant kommen? Komm nicht einzig nur aus Pflichtgefühl; in diesem Fall würd' ich Dich nicht sehen wollen. Doch kommst Du offenen Herzens die Brüder sehen, Deine armen Brüder, für die Du vorzeiten zärtliche Namen zu finden wußtest, die ihnen süß geklungen haben, – o, dann komm, dann sind sie noch dieselben für das geliebte Kind, das sie einst stets so freudig erwarteten!

Marie.

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