Dialog und die außerreligiösen geistigen Strömungen
Zweifellos bildet der Glaube den fundamentalen Grundstein
der Identität jedes Individuums. Genauso wenig besteht Zweifel
daran, dass dies nicht allein für die Zustimmung der Identität
einer Person oder einer Gemeinschaft ausschlaggebend ist. Eine
nicht minder starke Wirkung geht von weiteren, im Dialog
selten thematisierten, geistigen und gesellschaftlichen
Strömungen aus, die verschiedenen Völkern gleichen Glaubens
unterschiedliche Prägungen gewähren.
Es sind unter anderem ethnische Charakterzüge, eine
eigenständige Sprache und die damit verbundene spezifische
Denkart; historische Begebenheiten; traditionelle Grundwerte;
regionale Sitten und Gebräuche; mythologische Erzählungen;
raum- und zeitbedingter Aberglaube; spezifischer Tradition-
und Gewohnheiten bedingter, sich an den jeweiligen offiziellen
Glauben anlehnender Volksglaube; eine eigenartige Sensibilität
für Kunst, Literatur, Dichtung und Philosophie usw.;
kulturelle Eigenheiten; ideologische Sichtweisen,
wirtschaftliche, gesellschaftliche, rechtliche und politische
Verhältnisse und eine aus alledem entstandene sonderbare Welt-
und Lebensauffassung.
Die Identität eines jeden Menschen - von seinem
spezifischen, individuellen Besonderheiten abgesehen - ist im
Grunde ein Komplex, verflochten von fast unübersehbaren
geistigen und gesellschaftlichen Strömungen, von denen die
Religion eine Komponente - wenn auch sehr wichtige und zum
Teil tragende Komponente - darstellt. Erfahrungsgemäß begeht
man - vor allem bei christlich-islamischen Zwiegesprächen -
den Fehler, dass man erstens, wie oben (erstes Spannungsfeld)
erläutert, die Verhaltensweise der Anhänger der christlichen
und islamischen Lehre mit der Lehre zu vertauschen und
zweitens - und das ist schwerwiegender - alle die genannten
Strömungen und deren faktische Erscheinungen als christlich
oder islamisch zu bewerten. Der Dialog kann - anders ist es
nicht zu erwarten - nur in eine Sackgasse geraten.