Resümee und neue Vorschläge zur Lage der Muslime heute,
aber ganz besonders der Muslime in Europa
Dafür wähle ich einen extremen Fall, nämlich die Situation
der Muslime in Europa. Die Trennung zwischen der Kultur im
jeweiligen europäischen Land und dem Islam ist am deutlichsten
und die Diskrepanz zwischen der jüngeren Generation und ihren
Eltern noch größer. Die christlich—abendländische, ja sogar
atheistische Kultur in der die jüngere Generation der Muslime
ihre Persönlichkeit bildet, hat keinen Bezug zum Islam und
überhaupt wenig Verbindung zur Religiosität. Umgekehrt hat
auch der Islam, den die Emigranten aus den orientalischen
Ländern mitgebracht haben, keinen Zugang zu der jeweiligen
Kultur der europäischen Länder. Dem Islam fehlt hier eine
entsprechende Kultur als Basis, die in allen materiellen
Lebensbereichen die islamischen, ja sogar die religiösen
Aspekte repräsentiert.
Der Islam kann auch nicht mit all seinen kulturspezifischen
- arabischen, persischen, türkischen, pakistanischen,
afrikanischen, indischen, indonesischen usw. Ausformungen eine
neue kulturelle Heimat in der abendländischen Kultur gewinnen.
Er kann nicht in seiner orientalisch geprägten Gestalt die
abendländische Kultur prägen und in gleicher Weise von dieser
Kultur getragen werden. Das Problem liegt in dieser Realität
begründet und nicht im Islam selbst, wie ihn der Koran
verkündet hat. Kehren wir zum Koran selbst und zu den
Prinzipien zurück, die ihm seine zeit- und raumübergreifende
Gültigkeit garantiert haben, so erhalten wir eine ganz andere
Perspektive, die durchaus einen neuen Beginn in Sicht stellt.
Es sind wie oben erwähnt:
1. Die Geschichtlichkeit des Menschen und der menschlichen
Gemeinschaft;
2. Situationsbezogenheit des menschlichen Lebens und dessen
Wandel;
3. Die zentrale Bedeutung der Menschen und seine
materiellen und geistigen Belange für die Offenbarung;
4. Die Verknüpfung der zeit - und raumunabhängigen Werte
mit dem sich im Fluss befindlichen menschlichen Gesellschaften
und menschlichen Bedürfnissen.
Betrachten wir von diesen Prinzipien ausgehend die
islamische Geschichte daraufhin, wo, wann, wie und von wem
diese - bislang noch nicht genau formulierten Prinzipien -
gewirkt haben, so finden wir genug authentische Belege dafür,
die uns inhaltlich und geschichtlich eine Garantie für die
Richtigkeit des Weges geben:
Es ist die Zeit der Rechtgeleiteten Kalifen, die Zeit der
Entstehung der Schulen, die zeitgemäße Entwicklung dieser
Schulen, die aus dem Koran und der Sunna herausgefundenen
Prinzipien, die seitens der Vertreter all dieser Schulen
artikuliert worden sind, wozu noch Versuche einzelner
Gelehrter kommen, die darauf bedacht waren, auf die
Herausforderung ihrer Zeit und ihres Raumes Antwort zu finden,
usw. Dabei haben bestimmte Gestalten aus der Geschichte, wie
z.B. Imam as-Satibi, Ibn Valdun und dergleichen eine besondere
Bedeutung dadurch, dass sie am Koran und an dem Islam
festhalten, sie haben den Wandel der Gesellschaft als das
wichtigste Moment für den Erhalt der Religiosität der Menschen
entdeckt.
Wir sind aber auch hier und heute daran gehalten, aufgrund
der koranischen Führung, analog zu den Leistungen, ja zu den
authentischen Leistungen unserer Vorfahren, der heutigen
Herausforderung gerecht zu werden. Ich nehme die
Herausforderung der heutigen Weltgemeinschaft - betone
Weltgemeinschaft und nicht einzelne Gemeinschaften an. Wir
müssen entsprechend dieser Herausforderung aus dem Koran und
der wissenschaftlich gesicherten Sunna Prinzipien ableiten und
diese als Prinzipien der Rechtsentscheidung, d.h. mit
praktischen Wirkungen aufstellen können. Wir können und müssen
heute z. B. das Prinzip der rahmah, das uns der Koran mehr als
700mal auferlegt und das, das Wesen des Islam als Religion der
Barmherzigkeit bestimmt hat, als oberstes Prinzip unseres
Denkens, Handelns, unserer juristischen Gesellschaft und
gesellschaftlichen Entscheidungen in den Vordergrund stellen.
Dieses Prinzip kann mit anderen Prinzipien z. B. mit dem
Prinzip der absoluten Gleichheit der Menschen vor Gott, einen
großen Teil der heutigen Probleme der menschlichen
Gemeinschaft, adäquat zu den humanen Prinzipien wie
Menschenrechte und dergleichen, beantworten. Voraussetzung
dafür ist, dass man diese Prinzipien nicht nur als
Besonderheiten des Islam vorträgt; diese müssen viel mehr als
Prinzipien einer neuen Rechtsentscheidung fungieren können.
Damit bekommen wir einen weiteren Horizont, um die
Errungenschaften der Rechtsschulen von neuem zu interpretieren
und einen größeren Anwendungsbereich dabei zu sichern, z. B:
die Prinzipien von 3Urf (alle Rechtsschulen), Maslaha (malikitische
Schule), Qiyas (hanafitische und pafi’itische Schule),
Hermeneutik (hanbalitische Schule - ganz besonders Ibn Taymiya
und Ibn jausi) die Vernunft und ihtiyax - Methode (die
imamitische Schule) um nur einige Beispiele zu nennen.
Damit werden auch die Bemühungen der zeitgenössischen
Muslime, mit der gegenwärtigen Krise fertig zu werden, in ein
neues Licht gerückt. All diese Fakten setzen eine intensive
wissenschaftliche Arbeit, nämlich eine historisch kritische
Untersuchung der islamischen Tradition und geistlichen
Errungenschaften voraus, d. h. eine kritische Untersuchung aus
der Sicht der Muslime selbst und zwar aufgrund der
Herausforderung, die, die zeit- und raumunabhängigen
islamischen Werte einerseits und die zeitbedingten
Erscheinungen dieser Werte innerhalb der islamischen
Geistesgeschichte andererseits, bieten. Eine solche
Untersuchung gibt uns die Möglichkeit, in Hinblick auf die
heutige Weltgemeinschaft, die zentralen Begriffe neu zu
definieren. Erneut muss z.B. der Mensch, die Gemeinschaft (umma),
die Welt und ihre Beziehung zu Gott definiert werden.
Damit wird den Muslimen die Möglichkeit gegeben, den
Herausforderungen der Weltkultur gerecht zu werden und
ihrerseits diese Weltkultur im Interesse der Menschheit mit zu
prägen, wie dies koranisch gesehen von allen Menschen verlangt
wird, durch den Begriff ‘Amanah. Somit können die Muslime aus
der bisherigen Defensive herauskommen und sich positiv an der
Verantwortung für die Menschen und für die Welt beteiligen.
Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass es uns sehr schwer
fällt, diese Aufgabe allen Muslimen in der ganzen Welt
plausibel zu machen, es fehlt vielerorts die Voraussetzung
dafür. Die Muslime in Europa hingegen können das am besten
begreifen und nachempfinden und dieser Verantwortung, die
heute auf sie zukommt, eine positive Antwort erteilen. Gelingt
ihnen das, so werden sie mit der Zeit als Vorbild für einen
neuen gangbaren Weg auch in den islamischen Ländern ihre
Wirkung haben.