Der Islam im Dialog

Der Islam im Dialog - Aufsätze

Prof. Abdoldjavad Falaturi

Inhaltsverzeichnis

Toleranz und Intoleranz nach dem Koran - ein Widerspruch?

Möglichkeiten und Grenzen muslimischer Toleranz.

Historische Erfahrungen und heutige Situation

Fast immer, wenn das Thema „Islam und Toleranz" zur Debatte steht, bilden sich sehr schnell zwei Parteien, die Standpunkte vertreten, welche sich gegenseitig ausschließen - nennen wir sie einmal die Toleranzpartei und die Intoleranzpartei. Das Bemerkenswerte dabei ist, dass jede der beiden Parteien Argumente aus der Geschichte und Gegenwart muslimischer Länder beibringen kann, die ihren jeweiligen Standpunkt überzeugend bestätigen und im Einzelfall auch kaum zu widerlegen sind. Es pflegt dann dieses gegenseitige "Ja-Aber-Spiel" stattzufinden, und je nach geistiger Disposition der Parteien kann es dann zu Polemik und auch lautem Streit kommen.

Wie lassen sich solche Gegensätzlichkeiten erklären?

Liegen dem möglicherweise unterschiedliche Verständnisse/Definitionen von „Toleranz" zugrunde? Mag es sein, dass die Frage nach einem generellen „Entweder – Oder" einfach die Sache nicht treffen kann? Oder ist vielleicht das Wort „Toleranz" überhaupt unbrauchbar, um bestimmte Erscheinungsformen in muslimischen Gesellschaften zu erfassen, die wir nur und erst hier und heute gedanklich mit diesem Wort und dessen Gegenteil in Verbindung bringen? Antworten auf diese Fragen vermögen vielleicht die folgenden Beobachtungen und Überlegungen zu geben, möglicherweise auch nur Denkanstöße in Richtung auf eine Beantwortung.

Vorausschicken möchte ich jedoch noch zwei grundlegende Feststellungen:

- Zum ersten: Der Begriff und das Konzept „Toleranz" ist in unserem Kulturkontext entstanden und dies auch erst in der Neuzeit aufgrund ganz bestimmter gesellschaftlicher Notwendigkeiten. Es kann daher nicht verwundern, ja überhaupt nicht erwartet werden, dass ein originär-islamisches Gegenstück zu diesem Begriff und Konzept existiert.

- Und zum zweiten: Eine Religion mit universellem Anspruch, und das ist der Islam genauso wie das Christentum, kann sich prinzipiell nicht dazu bereit finden, die Glaubensinhalte und die religiöse Praxis anderer Religionsgemeinschaften als gleichberechtigt und damit deren Mitglieder als religiös gleichwertig anzuerkennen. Ein Weg dahin ist allenfalls über komplizierte gedankliche Konstrukte und/oder über die Aufgabe eigener Grundpositionen zu finden.

Erscheinungsformen, bei denen wir heute „Toleranz" assoziieren, lassen sich im Kontext „Islam" dann auch nicht auf der Ebene des Dogmas feststellen, vielmehr im Bereich des - nennen wir es einmal „säkularen"- gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Einige Beispiele quer durch die Geschichte muslimischer Länder (und nahezu beliebig vermehrbar) mögen diese Feststellung konkretisieren:

- Muslimische Territorien im ersten islamischen Jahrhundert wurden überwiegend von nichtmuslimischen Administratoren verwaltet, wobei noch lange Zeit die internen Verwaltungssprachen Griechisch und Persisch waren; auch in den folgenden Jahrhunderten, in Ägypten bis in die Neuzeit, waren Nichtmuslime weit überproportional in Positionen der Administration, besonders der Finanzverwaltung, vertreten.

- Muslimische Handbücher für die Hofkorrespondenz enthalten Einsetzungs-Urkunden für die geistlichen Oberhäupter verschiedener nichtmuslimischer Religionsgemeinschaften, Metropoliten, Bischöfe, Abte, Oberrabbiner u.a. Urkunden, in welchen diese geistlichen Führer als hochgestellte Notabeln in den jeweiligen muslimischen Territorien erscheinen.

- Es existiert ein umfangreiches Schrifttum von Nichtmuslimen in arabischer Sprache, so etwa auch des jüdischen Philosophen Maimonides.

- Die im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh. so einflussreiche und formative Bewegung des Arabischen Nationalismus verdankt ihre Entstehung und ideologische Ausrichtung vorwiegend christlichen Arabern; auch der Mitbegründer und Chefideologe der Bath-Partei, Michel Aflaq (Name!), war griechisch-orthodoxer Christ.

- Und Beispiele aus unserer direkten Gegenwart: Im Libanon ist traditionsgemäß der Staatspräsident ein maronitischer Christ, der Ministerpräsident ein sunnitischer Muslim und der Parlamentspräsident ein Schiit - und der jetzige UNO -Generalsekretär Butrus Ghali, ein koptischer Christ, war über lange Jahre der, wenn auch nicht nominelle, so doch wirkliche Außenminister Ägyptens.

Was diese wenigen Beispiele nur zeigen sollen und können, ist die unbestreitbare Tatsache, dass nahezu von Beginn an nicht-muslimische Gruppen integrierende Bestandteile muslimischer Gesellschaften gewesen sind, dies vor allem auch - das sei hinzugefügt - in den städtischen Zentren muslimischer Länder.

Wie ist es zu dieser gesellschaftlichen Integration von Nichtmuslimen (Integration möchte ich dem Wort „Toleranz" einmal vorziehen) gekommen - und was sind deren qualitative Merkmale?

Der Grundstein für die Integration wurde bereits zu Lebzeiten des Propheten Muhammad gelegt, ebenso stammen aus dieser Zeit bereits elementare Richtwerte für deren Inhalte und Bedingungen. Die späten und für die weitere Zukunft maßgeblichen koranischen Offenbarungen unterscheiden nämlich nicht nur Gläubige/Muslime und „Heiden", sie kennen auch eine Kategorie von, nennen wir sie einmal, „Halbgläubigen", gemeint sind die über eine ältere schriftliche Offenbarung verfügenden Juden und Christen, die „Schriftleute", wie ihre Bezeichnung lautet, und von denen es zur Zeit des Propheten größere Stammesgruppen auf der Arabischen Halbinsel gab.

In frühen Offenbarungen waren diese „Schriftleute" noch mit den Bekennern des Islam nahezu gleichgesetzt worden - die entsprechenden Koranverse werden übrigens häufig als Belege für islamische „Toleranz" zitiert, - ihre konkrete Weigerung jedoch, den Propheten als solchen anzuerkennen und den islamischen Kultus zu übernehmen, führte zu ihrer Herabstufung - aber eben nicht in die Kategorie der „Götzendiener" sondern in eine Gruppen von Leuten, die - einer authentischen göttlichen Offenbarung teilhaftig - diese im Laufe der Zeit verfälschend manipuliert haben (z.B. [Christen] Vergöttlichung des Propheten Jesus), im übrigen aber noch einige zentrale Grundwahrheiten bewahrt haben. Der Mittelstatus der „Schriftleute" als „Halbgläubige" hatte zwei entscheidende Konsequenzen: Im Unterschied zu den „Götzendienern" brauchten sie nicht mit Gewalt zum Anschluss an den Islam gezwungen zu werden, sondern konnten nach Abgabe einer „Entschädigung (Jizya)" ihre Form von Religion unbehelligt und rechtlich geschützt weiter praktizieren und: die Frauen der „Schriftleute" waren - anders als die „Götzendienerinnen" - für Muslime (auch ohne vorherige Konversion!) heiratbar.

Muhammad selbst hat bereits auf der Basis dieses Sonderstatus der „Schriftleute„ eine Reihe von Verträgen mit jüdischen und christlichen Gruppen auf der Arabischen Halbinsel abgeschlossen.

Für zukünftige Formen des Zusammenlebens entscheidend wurde jedoch die Periode der explosionsartigen muslimischen Expansion im 1. Jh. nach dem Tode des Propheten, in deren Verlauf Muslime bekanntlich die dominierende politische Kraft von den Grenzen des indischen Subkontinents bis zu den Pyrenäen wurden. Für das geographische Ausmaß, die Schnelligkeit und vor allem die Dauerhaftigkeit dieser Expansion zeichnet m. E. vor allem die Tatsache verantwortlich, dass die muslimischen Kämpfergruppen, die anfangs auf den Herrschaftsgebieten von Byzanz und Iran vorwiegend auf „Schriftleute" stießen, die Konversion zum Islam nicht einfordern mussten, vielmehr im Vertragswege Freiheit der Religionsausübung gegen Zahlung von „Entschädigung (Jizya)" anbieten konnten. Damit waren die Muslime für den größeren Teil dieser „Schriftleute" die bessere Alternative zu Byzanz und Iran, weil der größere Teil der orientalischen Christen, Monophysiten und Nestorianer nämlich, von Byzanz als „Häretiker" verfolgt wurden und im Iran als Christen ohnehin in Opposition zur vorgeschriebenen „Staatsreligion" standen.

Die Folge war auf Seiten der „Schriftleute" Vertragsbereitschaft - konnten sie doch seit langer Zeit endlich wieder ihr religiöses Leben frei und ungestört gestalten - darüber hinaus aber auch den Muslimen gegenüber zumindest wohlwollende Neutralität, des öfteren auch nachweislich Bereitschaft und Angebote zur Zusammenarbeit. So lässt sich „cum grano salis" durchaus behaupten, dass der dauerhafte Erfolg der frühislamischen Expansion nicht unwesentlich der Mithilfe von Nicht-Muslimen zu verdanken war. Auf der Basis eines solchen ‘joint venture" konstituierte sich dann im 7./8. Jh. eine muslimisch dominierte Ökumene, in der Nicht-Muslime die weit überwiegende zahlenmäßige Majorität bildeten - Nicht-Muslime im übrigen, die mit der Zahlung der „Entschädigung" (Jizya), die bald zu einer regelrechten Steuer wurde, die herrschende muslimische Minorität weitestgehend „finanzierten."

Dieses bereits sehr früh zustande gekommene Nebeneinanderexistieren oder auch Zusammenleben von Nichtmuslimen und Muslimen, für die Zukunft dann eine Konstante der Geschichte muslimischer Länder, wurde von beiden Seiten in den Kategorien eines Vertrages mit beiderseitigen Rechten und Pflichten gedacht und gestaltet. Von zentraler Bedeutung war dabei die Tatsache, dass dieses Vertrags-Muster schließlich auch integrierender Bestandteil des Islamischen Religiösen Gesetzes, der Pari3a, wurde das Vertragsverhältnis „Muslime - Nicht-Muslime" erhielt dadurch eine überzeitliche, nahezu „transzendente", Qualität, war prinzipiell den Wechselfällen der (politischen) Geschichte entzogen.

Worin nun bestanden die wesentlichen Grundbedingungen dieses zweiseitigen Vertragsverhältnisses?

Die nichtmuslimischen Gruppen waren verpflichtet:

- zur Zahlung der „Entschädigung" (Jizya) à Steuer

- zur Vermeidung jeglicher Zusammenarbeit mit den Feinden der Muslime

- zur Unterlassung von Handlungen, die, die umgebenden Muslime stören oder provozieren könnten, z.B. mit Lärm verbundene Aufrufe zum Gottesdienst; Prozessionen; zur Schau tragen von Kreuzen; aber auch: Weinverkauf in muslimischen Stadtvierteln

- (Verpflichtung) durch Kleidung und Waffenlosigkeit als Nichtmuslime erkennbar zu sein. Dies war die ursprüngliche Bedeutung dieses Gebotes für die Nicht-Muslime: die eigene Kleidung und die für Sesshafte typische Waffenlosigkeit war beizubehalten, und sie durften sich nicht wie muslimische Stammesgruppen kleiden und verhalten - dies implizierte vor allem auch den Erkennbarkeitsschutz für die weitaus minoritären Muslime, denn es gab ebenso das Verbot für die Muslime, die (offenbar attraktiven) Kleidungsgewohnheiten der „Schriftleute" nachzuahmen und zu übernehmen.

Die Muslime verpflichteten sich - als Gegenleistung - zu umfassendem Schutz der Nichtmuslime vor An- und Übergriffen von Außen und Innen; das Gewicht der muslimischen Schutz-Verpflichtung wird vor allem auch daran deutlich, dass sich für die Nichtmuslime zunehmend mehr die Bezeichnung „die Geschützten" anstelle von „Schriftleute" durchsetzte - was letztlich auch darauf hinweist, dass ihrem Rechtsstatus eine höhere Bedeutung beigemessen wurde als ihrer Religionszugehörigkeit.

Der umfassende Schutz von Seiten der Muslime nun betraf:

- das Leben der Nichtmuslime und ihrer Familien

- deren Immobilien und mobilen Besitz

- deren vorhandenen Kultstätten

- die Ausübung ihres religiösen Kultus

- schließlich die Garantie einer „gemeinschaftsinternen" Verwaltungs- und Rechtsautonomie unter der Führung geistlicher Oberhäupter

Die hier nur in aller Kürze skizzierten Grundbedingungen des Vertragsverhältnisses zwischen Muslimen und Nichtmuslimen haben sich über Jahrhunderte und in verschiedensten Regionen der muslimischen Welt als außerordentlich tragfähige Grundlage für ein Zusammenleben erwiesen - beide Seiten wussten jedenfalls sehr genau, woran sie miteinander waren. Es lässt sich ferner mit Recht behaupten, dass diese historisch gelebte und bewährte Form der Integration Andersgläubiger in muslimische Gesellschaften bis ins 17. /18. Jh. hinein im christlichen Europa kein Gegenstück hatte.

Ebenso klar ist aber auch, dass die Muslime in diesem Vertragsmodell die höherwertigen und überlegenen Partner waren: die Nichtmuslime (nämlich) wurden stärker finanziell belastet; sie waren nur begrenzt heiratswürdig; Religionswechsel war nur zum Islam hin denkbar und in umgekehrter Richtung ein todeswürdiges Vergehen; nichtmuslimisches Anstreben oder Erlangen von Herrschaft über Muslime war schlechthin der „Casus belli."

Erst mit den - zeitlich und regional sehr unterschiedlichen, aber durchaus üblichen - Abweichungen vom Vertragsmodell (oder auch ungewöhnlichen Auslegungen dieses Modells) kommen wir in die Bereiche sowohl dessen, was wir heute mit „Toleranz" als auch dessen, was wir mit „Intoleranz" bezeichnen.

Solche Abweichungen nämlich konnten in eine für die Nichtmuslime sehr positive, aber eben auch in eine für diese sehr ungünstige Richtung gehen. - Diese beiden möglichen Richtungen des Abweichens vom „Vertrag" seien hier kurz beschrieben und charakterisiert:

Zur positiven Seite hin spielte die Tatsache eine ausschlaggebende Rolle, dass Nicht-Muslime aufgrund besonderer Fähigkeiten für die umgebenden muslimischen Gesellschaften von hohem Nutzen, wenn nicht unentbehrlich, waren. Dazu gehörten ihre Fähigkeiten in der Administration, besonders der Finanzverwaltung, aufgrund derer sie in hohe und höchste Verwaltungsämter gelangen konnten, mitunter bis zur Position eines „Wazir."

Ferner konnten sich Nichtmuslime in Berufszweigen betätigen, die für Muslime als religiös anstößig galten, deren Ausübung aber notwendig war und zu hohen Gewinnen und Reichtum führte; genannt seien das Kapitalgeschäft und das Schmuckhandwerk. Zudem waren Nichtmuslime sehr häufig gesuchte und geförderte Vertreter von Wissenschaftsdisziplinen, die aus griechischer Tradition kommend, eher außerhalb des Kanons spezifisch islamischer Gelehrsamkeit lagen, der Naturwissenschaften etwa - besonders auch der Medizin. Der christliche oder jüdische Arzt z.B. auch und gerade in der Umgebung von Herrschern ist eine ganz normale Erscheinung.

Nichtmuslimische Personen und Gruppen, die in den hier genannten Bereichen zu großem Einfluss und/oder Reichtum gelangten, wurden natürlich (mindestens) wie „Gleichberechtigte" angesehen und behandelt, ihre andere Religionszugehörigkeit spielte einfach keine Rolle mehr; im übrigen haben dieser Art „Prominente" ihre Positionen auch immer wieder dazu benutzen können, ihren jeweiligen Religionsgemeinschaften auch längerfristig erhebliche - außerhalb des Vertrages liegende - Vorteile zu verschaffen.

Noch auf einer anderen Ebene konnte sich die Trennlinie, die das Vertragsmodell zwischen Muslimen und Nichtmuslimen gezogen hatte, immer wieder und auch für längere Zeit verwischen, im Bereich der Volksreligiosität: Langandauerndes Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen in enger Nachbarschaft, auch und vor allem im urbanen Milieu, hatte z.B. das gemeinsame Begehen der wechselseitigen religiösen Feste zur Folge, Feste, die eben in erster Linie als volkstümliche Feiern verstanden und begangen wurden. Auch beim gemeinsamen Besuch von (Segen verheißenden) „Heiligengräbern" war die Frage nach der Religionszugehörigkeit des jeweiligen „Heiligen" von denkbar geringem Interesse. Und schließlich haben auch manche der großen und besonders seit dem 14./15. Jh. außerordentlich einflussreichen mystischen Sufi-Orden bei der Auflösung religiöser Grenzziehungen eine wichtige Rolle gespielt: Deren zentrales Anliegen, durch esoterische Übungen den direkten Zugang zu Gott zu erlangen, konnte - bisweilen erklärtermaßen - auch Nichtmuslime mit einschließen und in ihren Reihen zulassen.

Werfen wir nun noch einen kurzen Blick auf Formen eines für die Nichtmuslime sehr negativen Umganges mit dem Integrationsvertrag; auf Maßnahmen, die durchaus mit unserem Verständnis von „Intoleranz" in Einklang zu bringen sind. Allerdings bleibt festzuhalten, dass die Aufkündigung des Grundvertrages von Seiten der Muslime und damit ein zur Disposition Stellen von Leben und Besitz nichtmuslimischer Gruppen zu den ganz seltenen Ausnahmefällen muslimischer Geschichte gehört, Pogrome gegen nichtmuslimische Minderheiten sind jedenfalls nicht Sache des Islam gewesen.

Jedoch sind mitunter die Konditionen des Integrationsvertrages äußerst restriktiv ausgelegt worden, und dies traf nichtmuslimische Gemeinschaften immer dann besonders hart, wenn nach längeren Zeiträumen einer sehr laxen und wohlmeinenden Handhabung der Vertragsauflagen diese wiederum auf den Buchstaben genau und in ihrer striktesten Auslegung eingefordert wurden. Dies konnte z. B. bedeuten, dass die „Geschützten" nach längerer Zeit ungezwungenen Zusammenlebens mit ihrer muslimischen Umgebung wieder dazu verpflichtet wurden, unterscheidende Kleidung zu tragen, keine hochwertigen Reittiere mehr zu benutzen oder auch die öffentlichen Bäder der Muslime zu meiden.

Dies konnte ferner dazu führen, dass Gotteshäuser von Nichtmuslimen abgerissen wurden, denn geschützt waren bei strenger Auslegung des Vertrages nur die zur Zeit der muslimischen Expansion im 7./8. Jh. bereits vorhandenen Kultstätten; eine Bestimmung, an die sich Nichtmuslime „in besseren Zeiten" nicht zu halten brauchten und nicht gehalten haben. Anknüpfungspunkt konnten ferner die finanziellen Verpflichtungen des Vertrages sein, die - wie auch schon im Koran - nicht quantifiziert und qualifiziert waren, und somit als Vorwand für beliebig hohe Besteuerung, mit der möglichen Konsequenz von Vermögenskonfiskationen etwa, benutzt werden konnten.

Schließlich ist des öfteren argumentiert worden, die Beschäftigung von Nicht-Muslimen in hohen Verwaltungspositionen könne diesen zuviel Macht über Muslime verschaffen und zu einer schleichenden Herrschaftsübernahme führen; gefordert und nicht selten auch durchgesetzt wurde dann die Entfernung der „Geschützten" aus der Administration; allerdings meist nur für kurze Zeit, da es ohne sie „einfach nicht ging." Die „klassischen" historischen Situationen für derartige Tendenzen zur Intoleranz waren übrigens durchweg Krisenzeiten in den betreffenden Regionen der muslimischen Ökumene: Angriffe von Außen, wirtschaftliche Notzeiten, gesellschaftliche Umbrüche, Machtergreifung durch puritanische Gruppierungen. Damit wären wir im übrigen auch bereits bei der heutigen Situation. Dazu nur einige Stichworte, die Falaturi sicherlich aus seiner theologischen Sachkenntnis und eigenen Erfahrungen noch erheblich bereichern kann.

Was wohl nicht bestritten werden kann, ist die Tatsache, dass viele Muslime in verschiedenen Ländern, vor allem des Nahen Ostens, ihren vorwiegend christlichen Minderheiten zunehmend mit Misstrauen begegnen, an ihrer Loyalität zweifeln. Die Erfahrungen z. B. mit den christlichen Maroniten im Libanon oder auch mit der Integration alteingesessener jüdischer Minoritäten in den Staat Israel scheinen die uralte Angst zu bestätigen, dass man sich auf diese Gruppen nicht verlassen kann, dass sie vor allem auch eine Art Brückenfunktion für eine westliche Überfremdung wahrnehmen.

Auf der anderen Seite haben die meisten muslimischen Staaten Verfassungen europäischen Musters, welche die rechtliche Gleichstellung aller Staatsbürger festgeschrieben haben.

Dennoch - vor allem wenn rein islamisch gedacht und argumentiert wird - kommen immer wieder die alten Muster des Schutzvertrages zum Vorschein, des Schutz-Vertrages, der zwar unbestritten über Jahrhunderte ein äußerst „fortschrittliches" Modell für das Zusammenleben verschiedener Religionen darstellen konnte, aber heutigen Ansprüchen eben nicht mehr genügen kann. Sehen wir einmal von muslimischen Intellektuellen ab, die man als „säkularisiert" bezeichnen kann und die mit der Toleranz-Forderung in unserem Sinne keinerlei Probleme haben (so jedenfalls meine Erfahrung), so scheint mir für die Zukunft von hoher Bedeutung zu sein, ob sich muslimische Theologie in Richtung auf eine vollgültige Anerkennung anderer Religionsformen bewegen kann und wird.

Ein, wenn nicht der, Prüfstein könnte sein, ob die Konversion vom Islam zu einer anderen Religion zu einer „Denkbarkeit" wird. Doch damit fische ich längst in den Gewässern von Falaturi und will hier erst einmal meine Überlegungen beenden.

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