Divan der persischen Poesie
Divan der persischen Poesie

Blütenlese aus der persischen Poesie, mit einer litterarhistorischen Einleitung, biographischen Notizen und erläuternden Anmerkungen.

Herausgegeben von Julius Hart.

1887 n.Chr.

Inhaltsverzeichnis

Divan der persischen Poesie

Rumi

Aus dem Mesnewi - Doppelverse - Die Furcht vor dem Tode

Zur Morgenzeit trat einst ein edler Gast
Mit banger Eil' in Salomos Palast,
Aus Gram sein Antlitz bleich und blau sein Mund; –
Der König sprach: »Was ist dir? Thu' mir's kund!«
Er sprach: »Es sah, im Auge wilde Gier,
Der Todesengel Asrael nach mir.«
Der König sprach: »Was soll ich thun? Verkünde!«
Er sprach: »O Seelenhorst, befiehl dem Winde,
Daß er nach Indien alsobald mich bringe,
Ob dort vielleicht zu leben mir gelinge!«
So find't der Mensch, der vor der Armut bang
Sich scheut, in Geiz und Gier den Untergang.
Der Armutsschein glich jenes Manns Erbeben,
Es glich sein Indien solchen nicht'gem Streben.

Über Land und Meer trug ihn sofort
Der Wind nach Indien auf des Königs Wort.
Im Ratssaal aber sprach am andern Tage
Der König zu dem Todesengel: »Sage,
Was schautest du so grimm nach jenem Frommen,
Daß ihm die Angst das Leben fast genommen?«
Er sprach: »Nicht grimm hab' ich ihn angesehn,
Verwundert nur sah ich am Weg ihn stehn,
Da für denselben Tag mir Gott befohlen,
Aus Indien seine Seele herzuholen.
Ich sprach erstaunt: »Und hätt' er hundert Schwingen,
Gar weit ist's, heut bis Indien noch zu dringen!«

Was alles ird'sche Thun, hiernach ermiß es!
Mach' klar dein Auge und zum Sehn erschließ es!
Vermagst du je dir selber zu entfliehn,
Sündhaft dich dem Allmächt'gen zu entziehn?«

Georg Rosen

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