IV. Die neuplatonischen Aristoteliker des Ostens
1. Kindi
1. Kindi steht in mannigfachen Beziehungen zu den
mutazilitischen Dialektikern und den neupythagoreischen
Naturphilosophen seiner Zeit und wir hätten ihn also schon vor
Razi (s. III, 1 § 5) unter den letzteren behandeln können.
Doch hat ihn die Tradition einstimmig als den ersten
Peripatetiker im Islam hingestellt. Mit welchem Rechte, wird
sich, soweit es aus den wenigen mangelhaft erhaltenen
Schriften dieses Philosophen möglich ist, im folgenden
ergeben.
Abu Jaqub ibn Ishaq al-Kindi (d. h. aus dem Stamme Kinda)
war arabischer Abstammung, und wurde deshalb, im Unterschiede
von seinen vielen nichtarabischen Genossen, die sich mit
Weltweisheit abgaben, der arabische Philosoph genannt. Er
führte seinen Stammbaum auf die alten Kinda-Fürsten zurück. Ob
er dazu das Recht besaß, lassen wir dahingestellt bleiben.
Jedenfalls hatte der südarabische Kindastamm es in der äußeren
Kultur weiter gebracht als andere Stämme. Viele Kinditen
hatten sich auch schon früh in Iraq (Babylonien) angesiedelt,
wo dann unser Philosoph in Kufa, davon sein Vater Statthalter
war, geboren wurde, vermutlich am Anfange des neunten
Jahrhunderts. Seine Erziehung erhielt er wahrscheinlich
teilweise [91]in Basra, ferner in Bagdad, also in den
Mittelpunkten der damaligen Bildung. Hier lernte er persische
Kultur und griechisches Wissen höher schätzen als alte
Arabertugend und muslimischen Glauben. Er behauptete sogar,
wohl nach anderen, Kachtan, der Stammvater der Südaraber, sei
ein Bruder Jaunan’s gewesen, von dem die Griechen herstammen.
So etwas konnte man sagen in Bagdad, am abbasidischen Hofe, wo
man keine Nationalität kannte und die alten Griechen
bewunderte.
Wie lange und in welcher Stellung Kindi am Hofe weilte, ist
nicht bekannt. Er wird als Übersetzer griechischer Werke ins
Arabische genannt und soll die Arbeiten anderer verbessert
haben, u. a. die sogenannte Theologie des Aristoteles.
Zahlreiche Diener und Schüler, deren Namen uns überliefert
sind, waren vermutlich unter seiner Aufsicht damit
beschäftigt. Ferner mag er dem Hofe als Astrologe oder Arzt,
vielleicht auch bei der Finanzverwaltung, Dienste geleistet
haben. Später aber wurde er entfernt, als er von der
orthodoxen Restauration unter Mutawakkil (847–861) mit
betroffen ward, und seine Bibliothek eine Zeit lang
konfisziert. In Bezug auf seinen Charakter sagt ihm die
Überlieferung nach, er sei geizig gewesen, was übrigens viele
andere Schöngeister und Bücherliebhaber sollen gewesen sein.
Ebensowenig wie Kindi’s Geburts-, ist sein Todesjahr
bekannt. Er scheint also in Ungnaden oder doch in
untergeordneter Stellung gestorben zu sein. Dass Masudi (s.
II, 4 § 4), der ihn sehr schätzte, ganz darüber schweigt, ist
befremdend. Höchstwahrscheinlich lebte er noch nach dem Jahre
870, wie aus einer seiner astrologischen Abhandlungen
hervorgeht. Der Ablauf einer kleinen Weltperiode stand damals
bevor, und das wurde von den Karmaten zur Stürzung des
Fürstenhauses benutzt. Da war nun aber Kindi reichsfreundlich
genug, den von einer Konjunktion bedrohten Bestand des Staates
um etwa 450 Jahre zu verlängern. Sein fürstlicher Gönner
konnte zufrieden [92]sein und die Geschichte hat sich bis auf
ein halbes Jahrhundert gefügt.
2. Kindi war ein Polyhistor, er hatte die ganze gelehrte
Bildung seiner Zeit in sich aufgenommen. Als Geograph,
Kulturhistoriker und Mediziner mag er eigene Beobachtungen
angestellt und mitgeteilt haben, ein schöpferischer Geist ist
er keinesfalls gewesen. Seine theologischen Ansichten zeigen
mutazilitisches Gepräge. Er schrieb nämlich über das
menschliche Vermögen zu handeln und die Zeit seines
Entstehens, ob vor oder zugleich mit der That. Ausdrücklich
betonte er die Gerechtigkeit und die Einheit Gottes. Gegen die
damals als indisch oder brahmanisch bekannte Theorie, als
einzige Erkenntnisquelle reiche die Vernunft aus, verteidigte
er die Prophetie, suchte diese aber mit der Vernunft in
Einklang zu bringen. Seine Kenntnis verschiedener
Religionssysteme forderte ihn zur Vergleichung auf. Als allen
gemeinsam fand er den Glauben heraus, dass die Welt das Werk
einer ewigen einheitlichen Ursache sei, für die unser Wissen
keine nähere Bezeichnung besitze. Es sei aber die Pflicht der
Einsichtigen, diese Ursache als göttlich anzuerkennen. Die
Gottheit selbst habe ihnen dazu den Weg gezeigt, auch Gesandte
geschickt zum Zeugnis, die den Gehorsamen ewige Glückseligkeit
verheißen, den Ungehorsamen aber entsprechende Bestrafung
androhen sollen.
3. Kindi’s eigentliche Philosophie ist, wie diejenige
seiner Zeitgenossen, an erster Stelle Mathematik und
Naturphilosophie, wobei dann Neuplatonisches und
Neupythagoreisches ineinanderfließen. Es wird nach ihm keiner
Philosoph ohne das Studium der Mathematik. Phantastisches
Spiel mit Zahlen und Buchstaben findet sich öfter in seinen
Schriften. Er wandte auch die Mathematik auf die Medizin an in
der Lehre von den zusammengesetzten Heilmitteln. Er gründete
nämlich die Wirkung dieser Mittel, ähnlich derjenigen der
Musik, auf die geometrische Proportion. Es handelt sich hier
um die Proportionalität der sinnlichen [93]Qualitäten: warm,
kalt, trocken und feucht. Soll ein Heilmittel im ersten Grade
warm sein, dann muss es das Doppelte an Wärme besitzen von der
gleichmäßigen Mischung, im zweiten Grade das Vierfache u. s.
w. Die Entscheidung darüber scheint Kindi dem Sinne, besonders
dem Geschmacke anvertraut zu haben, sodass wir bei ihm eine
Ahnung von der Proportionalität der Sinnesempfindungen hätten.
Das war nun, wenn überhaupt originell, bei ihm wohl nichts
anderes als eine mathematische Spielerei. Cardan aber, ein
Philosoph der Renaissance, hat ihn wegen dieser Lehre noch zu
den zwölf subtilsten Geistern gerechnet.
4. Die Welt ist nach Kindi, wie oben schon gesagt, ein Werk
Gottes, dessen Wirken aber von oben nach unten vielfach
vermittelt wird. Alles Höhere wirkt auf das Niedere ein, nicht
aber das Verursachte auf seine über ihm auf der Stufe des
Seins stehende Ursache. In allem Weltgeschehen ist nun eine
durchgängige Ursächlichkeit, die es uns ermöglicht, aus der
Erkenntnis der Ursache, der Himmelskörper z. B., Zukünftiges
vorherzusagen. Auch haben wir an einem vollständig erkannten
Einzelwesen einen Spiegel, darin der ganze Zusammenhang der
Welt zu schauen.
Dem Geiste gehört die höhere Wirklichkeit und alle
Wirksamkeit an. Seinem Wunsche gemäß hat sich die Materie zu
gestalten. Und zwischen dem göttlichen Geiste und der
materiellen Körperwelt steht die Seele in der Mitte. Sie ist
es, die die Sphärenwelt erst geschaffen hat. Von dieser
Weltseele ist die menschliche Seele ein Ausfluss. Ihrer Natur
nach, d. h. in ihren Wirkungen, ist die letztere an die
Mischung ihres Körpers gebunden, aber ihrem geistigen Wesen
nach ist sie davon unabhängig, treffen sie also auch nicht die
Einwirkungen der Gestirne, die sich auf das Natürliche
beschränken. Unsere Seele, so führt Kindi aus, ist eine
einfache, unvergängliche Substanz, aus der Welt der Vernunft
in die Sinnenwelt herabgekommen, [94]aber mit Erinnerung an
ihren früheren Zustand ausgestattet. Sie findet sich hier
nicht heimisch, denn sie hat viele Bedürfnisse, deren
Befriedigung ihr versagt bleibt, und die deshalb von
schmerzlichen Gefühlen begleitet sind. Es ist eben nichts
beständig in dieser Welt des Entstehens und Vergehens, in der
man dessen, was man liebt, jeden Augenblick beraubt werden
kann. Beständigkeit gibt es nur in der Welt der Vernunft. Wenn
wir also unsere Wünsche erfüllt sehen wollen und nicht dessen
beraubt werden, was uns teuer ist, so müssen wir uns den
ewigen Gütern der Vernunft zuwenden, der Furcht Gottes, der
Wissenschaft und den guten Werken. Wenn wir aber nur den
materiellen Gütern nachgehen und glauben, sie uns erhalten zu
können, so streben wir etwas nach, das in Wirklichkeit nicht
existiert.
5. Dieser ethisch-metaphysischen Dualität des Sinnlichen
und Geistigen entspricht die Lehre Kindi’s vom Wissen. Unsere
Erkenntnis ist danach entweder sinnliche oder
Vernunfterkenntnis; was dazwischen, die Phantasie oder die
Vorstellungskraft, heißt mittleres Vermögen. Die Sinne
erfassen nun das Einzelne oder die materielle Form, die
Vernunft aber das Allgemeine, Arten und Gattungen, oder die
geistige Form. Und wie das Wahrgenommene mit der
Sinneswahrnehmung eins ist, so ist es auch das von der
Vernunft Erfasste mit der Vernunft selbst.
Zum ersten Male taucht hier nun die Lehre von der Vernunft
oder vom Geiste (νοῦς, ʻaql) in einer Gestalt auf, wie sie,
nur etwas modifiziert, bei den späteren muslimischen
Philosophen einen großen Platz einnimmt. Sie ist
charakteristisch für den ganzen Verlauf der Philosophie im
Islam. Wie im Universalienstreite des christlichen
Mittelalters sich doch auch ein objectiv-wissenschaftliches
Interesse kundgibt, so zeigt sich in den philosophischen
Erörterungen der Muslime über den denkenden Geist vor allem
das subjektive Bedürfnis intellektueller Bildung. [95]
Kindi unterscheidet einen vierfachen Geist2: erstens den
Geist, der immer wirklich ist, die Ursache und das Wesen alles
Geistigen in der Welt, also wohl Gott oder der erste
geschaffene Geist; zweitens den Geist als vernünftige Anlage
oder Potenz der menschlichen Seele; drittens als Habitus oder
wirklichen Besitz der Seele, dessen sie sich jeden Augenblick
bedienen kann, wie z. B. der Schreiber seiner Kunst; endlich
viertens als Thätigkeit, wodurch das, was die Seele als ein
Wirkliches in sich hat, in die äußere Wirklichkeit übergeführt
wird. Letztere Thätigkeit scheint, nach Kindi, die eigene That
des Menschen zu sein, während er die Überführung der Potenz
zum Habitus oder die Verwirklichung des Möglichen von der
ersten Ursache, dem ewigwirklichen Geiste herleitet. Den
wirklichen Geist haben wir also von oben erhalten und es heißt
der dritte ʻaql deshalb ʻaql mustafad, lat. intellectus
adeptus sive adquisitus. Die Grundanschauung des Altertums,
alles Wissen um die Dinge müsse von außen an uns herankommen,
geht in dieser Form, in der Lehre vom ʻaql mustafad oder dem
Geiste, den wir von oben bekommen, durch die arabische
Philosophie und dann in die christliche hinein. Leider ist die
Lehre in Bezug auf diese Philosophie selbst nahezu richtig.
Der thätige Geist, der sie geschaffen, ist in Wirklichkeit der
neuplatonische Aristoteles.
Das Höchste, was er besitzt, hat der Mensch ja immer seinem
Gotte oder den Göttern zugeschrieben. Muslimische Theologen
schrieben der göttlichen Wirksamkeit unmittelbar die
sittlichen Handlungen des Menschen zu. Nach den Philosophen
aber ist das Wissen mehr als die That. Diese, auf die niedere,
sinnliche Welt sich richtend, mag des [96]Menschen Eigentum
sein; sein höchstes Wissen aber, die reine Vernunft, kommt von
oben her, vom göttlichen Wesen.
Es ist klar, dass die Lehre vom Geiste, wie sie bei Kindi
vorliegt, auf die Nus-Lehre des Alexander von Aphrodisias im
zweiten Buche über die Seele zurückgeht. Aber Alexander
behauptete ausdrücklich, nach Aristoteles gebe es einen
dreifachen Nus. Kindi sagt dagegen, er stelle die Meinung des
Platon und Aristoteles dar. Neupythagoreisches und
Neuplatonisches verknüpfen sich hier. In allem muss die
Vierzahl nachgewiesen werden, und Platon und Aristoteles
sollen übereinstimmen.
6. Ziehen wir die Summe. Kindi ist mutazilitischer Theolog
und neuplatonischer Philosoph mit neupythagoreischen Zuthaten.
Sokrates, der Märtyrer des athenischen Heidentumes, ist sein
Ideal, über ihn, sein Schicksal und seine Lehre hat er mehrere
Schriften verfasst. Platon und Aristoteles sucht er in
neuplatonischer Weise zu vereinigen.
Trotzdem nennt ihn die Überlieferung den ersten, der in
seinen Schriften dem Aristoteles folgte. Nicht ganz ohne Grund
fürwahr. In seinem langen Schriftenverzeichnisse nimmt
Aristoteles einen hervorragenden Platz ein. Er begnügte sich
nicht mit bloßem Übersetzen, sondern studierte die übersetzten
Werke, versuchte es auch sie zu verbessern und zu erläutern.
Die aristotelische Physik, mit der Erklärung des Alexander von
Aphrodisias, hat jedenfalls bedeutend auf ihn gewirkt.
Behauptungen, wie dass die Welt nicht der Wirklichkeit,
sondern nur der Potenz nach unendlich sei, dass die Bewegung
stetig und dergleichen mehr deuten darauf hin. Die damaligen
Naturphilosophen, wie noch die treuen Brüder, sagten z. B.,
die Bewegung sei ebensowenig stetig wie die Zahl.
Ferner aber wandte Kindi sich entschieden von der
wundersüchtigen Zeitphilosophie ab, indem er die Alchemie für
Schwindel erklärte. Er hielt es für menschenunmöglich, was die
Natur allein hervorzubringen im Stande ist. [97]Wer sich denn
auch mit alchemistischen Versuchen abgebe, betrüge, seiner
Meinung nach, sich selbst oder andere. Diese Ansicht Kindi’s
hat der berühmte Mediziner Razi zu widerlegen versucht.
7. Sowohl als Lehrer wie als Schriftsteller hat Kindi
hauptsächlich durch seine Mathematik, Astrologie, Geographie
und Medizin gewirkt. Sein treuester und gewiss bedeutendster
Schüler war Achmed ibn Mohammed al-Tajjib al-Sarachsi (gest.
899), Verwaltungsbeamter und Freund des Chalifen Mutadid,
dessen Nachlässigkeit oder Willkür er zum Opfer fiel. Er
befasste sich mit Geheimwissenschaft und Astrologie, bemühte
sich, aus den Wundern der Schöpfung die Weisheit und Macht des
Schöpfers zu erkennen, und trieb Geographie und Geschichte.
Bekannter ist ein anderer Schüler Kindi’s geworden, Abu
Maschar (gest. 885), der aber seinen Ruhm ganz der Astrologie
zu verdanken hat. Dieser soll von einem fanatischen Gegner der
Philosophie, durch ein oberflächliches Studium der Mathematik
zur Beschäftigung mit der Astrologie gereizt, als er schon 47
Jahre alt war, ein Verehrer Kindi’s geworden sein. Ob nun das
Dichtung oder Wahrheit, auf jeden Fall ist ein solcher
Bildungsgang charakteristisch für das neugierige Haschen nach
halbverstandenem Wissen, das den ersten Jahrhunderten der
arabischen Wissenschaft eigentümlich ist.
Die Schule Kindi’s ist in keiner Weise über den Meister
hinausgegangen. Von ihrer litterarischen Thätigkeit ist uns
fast nur in einzelnen Zitaten etwas erhalten. Möglich wäre es
allerdings, dass in den Abhandlungen der treuen Brüder sich
einiges gerettet hätte. Doch lässt sich dies beim jetzigen
Stande der Wissenschaft nicht bestimmen. [98]