Philosophie im Islam

Geschichte der Philosophie im Islam

Tjitze J. de Boer

1901

STUTTGART. FR. FROMMANNS VERLAG (E. HAUFF).

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IV. Die neuplatonischen Aristoteliker des Ostens

1. Kindi

1. Kindi steht in mannigfachen Beziehungen zu den mutazilitischen Dialektikern und den neupythagoreischen Naturphilosophen seiner Zeit und wir hätten ihn also schon vor Razi (s. III, 1 § 5) unter den letzteren behandeln können. Doch hat ihn die Tradition einstimmig als den ersten Peripatetiker im Islam hingestellt. Mit welchem Rechte, wird sich, soweit es aus den wenigen mangelhaft erhaltenen Schriften dieses Philosophen möglich ist, im folgenden ergeben.

Abu Jaqub ibn Ishaq al-Kindi (d. h. aus dem Stamme Kinda) war arabischer Abstammung, und wurde deshalb, im Unterschiede von seinen vielen nichtarabischen Genossen, die sich mit Weltweisheit abgaben, der arabische Philosoph genannt. Er führte seinen Stammbaum auf die alten Kinda-Fürsten zurück. Ob er dazu das Recht besaß, lassen wir dahingestellt bleiben. Jedenfalls hatte der südarabische Kindastamm es in der äußeren Kultur weiter gebracht als andere Stämme. Viele Kinditen hatten sich auch schon früh in Iraq (Babylonien) angesiedelt, wo dann unser Philosoph in Kufa, davon sein Vater Statthalter war, geboren wurde, vermutlich am Anfange des neunten Jahrhunderts. Seine Erziehung erhielt er wahrscheinlich teilweise [91]in Basra, ferner in Bagdad, also in den Mittelpunkten der damaligen Bildung. Hier lernte er persische Kultur und griechisches Wissen höher schätzen als alte Arabertugend und muslimischen Glauben. Er behauptete sogar, wohl nach anderen, Kachtan, der Stammvater der Südaraber, sei ein Bruder Jaunan’s gewesen, von dem die Griechen herstammen. So etwas konnte man sagen in Bagdad, am abbasidischen Hofe, wo man keine Nationalität kannte und die alten Griechen bewunderte.

Wie lange und in welcher Stellung Kindi am Hofe weilte, ist nicht bekannt. Er wird als Übersetzer griechischer Werke ins Arabische genannt und soll die Arbeiten anderer verbessert haben, u. a. die sogenannte Theologie des Aristoteles. Zahlreiche Diener und Schüler, deren Namen uns überliefert sind, waren vermutlich unter seiner Aufsicht damit beschäftigt. Ferner mag er dem Hofe als Astrologe oder Arzt, vielleicht auch bei der Finanzverwaltung, Dienste geleistet haben. Später aber wurde er entfernt, als er von der orthodoxen Restauration unter Mutawakkil (847–861) mit betroffen ward, und seine Bibliothek eine Zeit lang konfisziert. In Bezug auf seinen Charakter sagt ihm die Überlieferung nach, er sei geizig gewesen, was übrigens viele andere Schöngeister und Bücherliebhaber sollen gewesen sein.

Ebensowenig wie Kindi’s Geburts-, ist sein Todesjahr bekannt. Er scheint also in Ungnaden oder doch in untergeordneter Stellung gestorben zu sein. Dass Masudi (s. II, 4 § 4), der ihn sehr schätzte, ganz darüber schweigt, ist befremdend. Höchstwahrscheinlich lebte er noch nach dem Jahre 870, wie aus einer seiner astrologischen Abhandlungen hervorgeht. Der Ablauf einer kleinen Weltperiode stand damals bevor, und das wurde von den Karmaten zur Stürzung des Fürstenhauses benutzt. Da war nun aber Kindi reichsfreundlich genug, den von einer Konjunktion bedrohten Bestand des Staates um etwa 450 Jahre zu verlängern. Sein fürstlicher Gönner konnte zufrieden [92]sein und die Geschichte hat sich bis auf ein halbes Jahrhundert gefügt.

2. Kindi war ein Polyhistor, er hatte die ganze gelehrte Bildung seiner Zeit in sich aufgenommen. Als Geograph, Kulturhistoriker und Mediziner mag er eigene Beobachtungen angestellt und mitgeteilt haben, ein schöpferischer Geist ist er keinesfalls gewesen. Seine theologischen Ansichten zeigen mutazilitisches Gepräge. Er schrieb nämlich über das menschliche Vermögen zu handeln und die Zeit seines Entstehens, ob vor oder zugleich mit der That. Ausdrücklich betonte er die Gerechtigkeit und die Einheit Gottes. Gegen die damals als indisch oder brahmanisch bekannte Theorie, als einzige Erkenntnisquelle reiche die Vernunft aus, verteidigte er die Prophetie, suchte diese aber mit der Vernunft in Einklang zu bringen. Seine Kenntnis verschiedener Religionssysteme forderte ihn zur Vergleichung auf. Als allen gemeinsam fand er den Glauben heraus, dass die Welt das Werk einer ewigen einheitlichen Ursache sei, für die unser Wissen keine nähere Bezeichnung besitze. Es sei aber die Pflicht der Einsichtigen, diese Ursache als göttlich anzuerkennen. Die Gottheit selbst habe ihnen dazu den Weg gezeigt, auch Gesandte geschickt zum Zeugnis, die den Gehorsamen ewige Glückseligkeit verheißen, den Ungehorsamen aber entsprechende Bestrafung androhen sollen.

3. Kindi’s eigentliche Philosophie ist, wie diejenige seiner Zeitgenossen, an erster Stelle Mathematik und Naturphilosophie, wobei dann Neuplatonisches und Neupythagoreisches ineinanderfließen. Es wird nach ihm keiner Philosoph ohne das Studium der Mathematik. Phantastisches Spiel mit Zahlen und Buchstaben findet sich öfter in seinen Schriften. Er wandte auch die Mathematik auf die Medizin an in der Lehre von den zusammengesetzten Heilmitteln. Er gründete nämlich die Wirkung dieser Mittel, ähnlich derjenigen der Musik, auf die geometrische Proportion. Es handelt sich hier um die Proportionalität der sinnlichen [93]Qualitäten: warm, kalt, trocken und feucht. Soll ein Heilmittel im ersten Grade warm sein, dann muss es das Doppelte an Wärme besitzen von der gleichmäßigen Mischung, im zweiten Grade das Vierfache u. s. w. Die Entscheidung darüber scheint Kindi dem Sinne, besonders dem Geschmacke anvertraut zu haben, sodass wir bei ihm eine Ahnung von der Proportionalität der Sinnesempfindungen hätten. Das war nun, wenn überhaupt originell, bei ihm wohl nichts anderes als eine mathematische Spielerei. Cardan aber, ein Philosoph der Renaissance, hat ihn wegen dieser Lehre noch zu den zwölf subtilsten Geistern gerechnet.

4. Die Welt ist nach Kindi, wie oben schon gesagt, ein Werk Gottes, dessen Wirken aber von oben nach unten vielfach vermittelt wird. Alles Höhere wirkt auf das Niedere ein, nicht aber das Verursachte auf seine über ihm auf der Stufe des Seins stehende Ursache. In allem Weltgeschehen ist nun eine durchgängige Ursächlichkeit, die es uns ermöglicht, aus der Erkenntnis der Ursache, der Himmelskörper z. B., Zukünftiges vorherzusagen. Auch haben wir an einem vollständig erkannten Einzelwesen einen Spiegel, darin der ganze Zusammenhang der Welt zu schauen.

Dem Geiste gehört die höhere Wirklichkeit und alle Wirksamkeit an. Seinem Wunsche gemäß hat sich die Materie zu gestalten. Und zwischen dem göttlichen Geiste und der materiellen Körperwelt steht die Seele in der Mitte. Sie ist es, die die Sphärenwelt erst geschaffen hat. Von dieser Weltseele ist die menschliche Seele ein Ausfluss. Ihrer Natur nach, d. h. in ihren Wirkungen, ist die letztere an die Mischung ihres Körpers gebunden, aber ihrem geistigen Wesen nach ist sie davon unabhängig, treffen sie also auch nicht die Einwirkungen der Gestirne, die sich auf das Natürliche beschränken. Unsere Seele, so führt Kindi aus, ist eine einfache, unvergängliche Substanz, aus der Welt der Vernunft in die Sinnenwelt herabgekommen, [94]aber mit Erinnerung an ihren früheren Zustand ausgestattet. Sie findet sich hier nicht heimisch, denn sie hat viele Bedürfnisse, deren Befriedigung ihr versagt bleibt, und die deshalb von schmerzlichen Gefühlen begleitet sind. Es ist eben nichts beständig in dieser Welt des Entstehens und Vergehens, in der man dessen, was man liebt, jeden Augenblick beraubt werden kann. Beständigkeit gibt es nur in der Welt der Vernunft. Wenn wir also unsere Wünsche erfüllt sehen wollen und nicht dessen beraubt werden, was uns teuer ist, so müssen wir uns den ewigen Gütern der Vernunft zuwenden, der Furcht Gottes, der Wissenschaft und den guten Werken. Wenn wir aber nur den materiellen Gütern nachgehen und glauben, sie uns erhalten zu können, so streben wir etwas nach, das in Wirklichkeit nicht existiert.

5. Dieser ethisch-metaphysischen Dualität des Sinnlichen und Geistigen entspricht die Lehre Kindi’s vom Wissen. Unsere Erkenntnis ist danach entweder sinnliche oder Vernunfterkenntnis; was dazwischen, die Phantasie oder die Vorstellungskraft, heißt mittleres Vermögen. Die Sinne erfassen nun das Einzelne oder die materielle Form, die Vernunft aber das Allgemeine, Arten und Gattungen, oder die geistige Form. Und wie das Wahrgenommene mit der Sinneswahrnehmung eins ist, so ist es auch das von der Vernunft Erfasste mit der Vernunft selbst.

Zum ersten Male taucht hier nun die Lehre von der Vernunft oder vom Geiste (νοῦς, ʻaql) in einer Gestalt auf, wie sie, nur etwas modifiziert, bei den späteren muslimischen Philosophen einen großen Platz einnimmt. Sie ist charakteristisch für den ganzen Verlauf der Philosophie im Islam. Wie im Universalienstreite des christlichen Mittelalters sich doch auch ein objectiv-wissenschaftliches Interesse kundgibt, so zeigt sich in den philosophischen Erörterungen der Muslime über den denkenden Geist vor allem das subjektive Bedürfnis intellektueller Bildung. [95]

Kindi unterscheidet einen vierfachen Geist2: erstens den Geist, der immer wirklich ist, die Ursache und das Wesen alles Geistigen in der Welt, also wohl Gott oder der erste geschaffene Geist; zweitens den Geist als vernünftige Anlage oder Potenz der menschlichen Seele; drittens als Habitus oder wirklichen Besitz der Seele, dessen sie sich jeden Augenblick bedienen kann, wie z. B. der Schreiber seiner Kunst; endlich viertens als Thätigkeit, wodurch das, was die Seele als ein Wirkliches in sich hat, in die äußere Wirklichkeit übergeführt wird. Letztere Thätigkeit scheint, nach Kindi, die eigene That des Menschen zu sein, während er die Überführung der Potenz zum Habitus oder die Verwirklichung des Möglichen von der ersten Ursache, dem ewigwirklichen Geiste herleitet. Den wirklichen Geist haben wir also von oben erhalten und es heißt der dritte ʻaql deshalb ʻaql mustafad, lat. intellectus adeptus sive adquisitus. Die Grundanschauung des Altertums, alles Wissen um die Dinge müsse von außen an uns herankommen, geht in dieser Form, in der Lehre vom ʻaql mustafad oder dem Geiste, den wir von oben bekommen, durch die arabische Philosophie und dann in die christliche hinein. Leider ist die Lehre in Bezug auf diese Philosophie selbst nahezu richtig. Der thätige Geist, der sie geschaffen, ist in Wirklichkeit der neuplatonische Aristoteles.

Das Höchste, was er besitzt, hat der Mensch ja immer seinem Gotte oder den Göttern zugeschrieben. Muslimische Theologen schrieben der göttlichen Wirksamkeit unmittelbar die sittlichen Handlungen des Menschen zu. Nach den Philosophen aber ist das Wissen mehr als die That. Diese, auf die niedere, sinnliche Welt sich richtend, mag des [96]Menschen Eigentum sein; sein höchstes Wissen aber, die reine Vernunft, kommt von oben her, vom göttlichen Wesen.

Es ist klar, dass die Lehre vom Geiste, wie sie bei Kindi vorliegt, auf die Nus-Lehre des Alexander von Aphrodisias im zweiten Buche über die Seele zurückgeht. Aber Alexander behauptete ausdrücklich, nach Aristoteles gebe es einen dreifachen Nus. Kindi sagt dagegen, er stelle die Meinung des Platon und Aristoteles dar. Neupythagoreisches und Neuplatonisches verknüpfen sich hier. In allem muss die Vierzahl nachgewiesen werden, und Platon und Aristoteles sollen übereinstimmen.

6. Ziehen wir die Summe. Kindi ist mutazilitischer Theolog und neuplatonischer Philosoph mit neupythagoreischen Zuthaten. Sokrates, der Märtyrer des athenischen Heidentumes, ist sein Ideal, über ihn, sein Schicksal und seine Lehre hat er mehrere Schriften verfasst. Platon und Aristoteles sucht er in neuplatonischer Weise zu vereinigen.

Trotzdem nennt ihn die Überlieferung den ersten, der in seinen Schriften dem Aristoteles folgte. Nicht ganz ohne Grund fürwahr. In seinem langen Schriftenverzeichnisse nimmt Aristoteles einen hervorragenden Platz ein. Er begnügte sich nicht mit bloßem Übersetzen, sondern studierte die übersetzten Werke, versuchte es auch sie zu verbessern und zu erläutern. Die aristotelische Physik, mit der Erklärung des Alexander von Aphrodisias, hat jedenfalls bedeutend auf ihn gewirkt. Behauptungen, wie dass die Welt nicht der Wirklichkeit, sondern nur der Potenz nach unendlich sei, dass die Bewegung stetig und dergleichen mehr deuten darauf hin. Die damaligen Naturphilosophen, wie noch die treuen Brüder, sagten z. B., die Bewegung sei ebensowenig stetig wie die Zahl.

Ferner aber wandte Kindi sich entschieden von der wundersüchtigen Zeitphilosophie ab, indem er die Alchemie für Schwindel erklärte. Er hielt es für menschenunmöglich, was die Natur allein hervorzubringen im Stande ist. [97]Wer sich denn auch mit alchemistischen Versuchen abgebe, betrüge, seiner Meinung nach, sich selbst oder andere. Diese Ansicht Kindi’s hat der berühmte Mediziner Razi zu widerlegen versucht.

7. Sowohl als Lehrer wie als Schriftsteller hat Kindi hauptsächlich durch seine Mathematik, Astrologie, Geographie und Medizin gewirkt. Sein treuester und gewiss bedeutendster Schüler war Achmed ibn Mohammed al-Tajjib al-Sarachsi (gest. 899), Verwaltungsbeamter und Freund des Chalifen Mutadid, dessen Nachlässigkeit oder Willkür er zum Opfer fiel. Er befasste sich mit Geheimwissenschaft und Astrologie, bemühte sich, aus den Wundern der Schöpfung die Weisheit und Macht des Schöpfers zu erkennen, und trieb Geographie und Geschichte. Bekannter ist ein anderer Schüler Kindi’s geworden, Abu Maschar (gest. 885), der aber seinen Ruhm ganz der Astrologie zu verdanken hat. Dieser soll von einem fanatischen Gegner der Philosophie, durch ein oberflächliches Studium der Mathematik zur Beschäftigung mit der Astrologie gereizt, als er schon 47 Jahre alt war, ein Verehrer Kindi’s geworden sein. Ob nun das Dichtung oder Wahrheit, auf jeden Fall ist ein solcher Bildungsgang charakteristisch für das neugierige Haschen nach halbverstandenem Wissen, das den ersten Jahrhunderten der arabischen Wissenschaft eigentümlich ist.

Die Schule Kindi’s ist in keiner Weise über den Meister hinausgegangen. Von ihrer litterarischen Thätigkeit ist uns fast nur in einzelnen Zitaten etwas erhalten. Möglich wäre es allerdings, dass in den Abhandlungen der treuen Brüder sich einiges gerettet hätte. Doch lässt sich dies beim jetzigen Stande der Wissenschaft nicht bestimmen. [98]

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