Sinnentleerung [ta’til]
Einige Gelehrte gehen davon aus, dass der
Mensch nur soviel von seinen Wurzeln her erkennen kann, dass
diese Welt einen Ursprung und das Dasein eine Quelle besitzt,
ohne diesen Ursprung oder diese Quelle näher beschreiben zu
können. In allen Sprachen gibt es für diese uns unbekannte
Wirklichkeit einen Begriff. Alle solche Begriffe sind
eigentlich Wesensbeschreibungen, das heißt, sie sind nur ein
Hinweis auf jene Realität, deren Existenz wir zwar wahrnehmen
können, aber wir nicht näher beschreiben können. Zwar können
wir deren Existenz voll wahrnehmen, jedoch über weitere
Einzelheiten keine exakten Informationen geben. Daher sei “Er“
der geeigneteste Begriff für den Ursprung allen Daseins oder
entsprechende Wörter in anderen Sprachen. “Er“ sei ebenso ein
Ausdruck Seiner Existenz wie ebenso eine Andeutung, dass “Er“
im Einzelnen unbekannt bleibt. Begriffe wie “Allah“, “Gott“, “Ahuramazda“,
“Brahma“ würden Gleiches zum Ausdruck bringen. Jene Gelehrte
sind der Ansicht, dass jede Beschreibung und jedes Merkmal,
das wir Ihm wegen seiner Unzutrefflichkeit zuordnen, den
Menschen vom Weg der Gotterkenntnis abirren lässt. Die beste
Erkenntnis sei eben die, zu wissen, dass es Ihn gibt und dass
Er über alles, was dem menschlichen Verstand entspringt,
erhaben ist.
„Oh du, der du erhaben bist über
jegliche Vorstellung, Abstraktion, Analogie, Vermutung und
Gedanken und alles, was wir über Dich sagen, hören oder
lesen!“
Demzufolge bewegt sich “Gotterkenntnis“,
wenn einmal Gewissheit über die Existenz des Ursprungs erlangt
ist, lediglich in “einer Richtung“, in der Verinnerlichung und
Dankpreisung, das heißt der Ursprung wird über alle vom
Menschen geschaffenen Beschreibungen erhaben erachtet.
Philosophen und Theologen nennen diese Auffassung “Ta’til“,
weil Anhänger dieser Richtung der Meinung sind, dass der
menschliche Verstand nicht in der Lage sei, Gott näher zu
beschreiben, sein Wahrnehmungsvermögen sei diesbezüglich
unfähig. In bestimmten religiösen Überlieferungen jedoch hat
der Terminus “Ta’til“ eine Sonderbedeutung erfahren, nämlich
das “Nichtimmanentsein des ursprünglichen Lenkers in der
stofflichen Welt“ und “die Aberkennung einer erfassbaren
Realität im Begriff Gott“.
Kulaini zitiert in seinem berühmten Werk
“Usul al-Kafi“ von Hasan ibn Said: „Abu Dschafar
wurde gefragt: „Kann man sagen, Gott sei ein Ding?“ Er sagte:
„Ja, denn diese Definition hält (den Menschen) fern von beiden
Extremen, das der Sinnentleerung und des Morphismus“.“
In einer anderen Überlieferung heißt es über Imam
Dschafar: „... da die Negation der Dinglichkeit Gottes mit
der Irrealität und Nichtigkeit Gottes gleich bedeutend wäre
oder das andere Extrem zur Folge hätte, nämlich “Ihm“ eine
stoffliche Gestalt verleihen würde.“
Scheich Saduq führt in seinem Werk
“Tauhid“ folgende Überlieferung auf: Abdurrahim al-Qasir
sagte, er habe über Abdulmulk ibn Ain Fragen an Abu Abdullah
gerichtet: „... kläre mich über den allmächtigen Gott auf,
ob Er Form und Gestalt hat?“ Abu Abdullah ließ ihn über
Abdulmulk wissen: „Gottes Segen sei mit dir. Du fragst über
Tauhid (Einheit) und über die Anschauungen anderer vor unserer
Zeit. Gepriesen sei Gott, Dem nichts gleich ist, Dem
Allhörenden, Allwissenden. Er ist erhaben über alles, was die
Anhänger Ihm gleichsetzen, wie sie Ihn mit Seinen Geschöpfen
vergleichen und über Ihn Sachen verbreiten, die nicht wahr
sein können. Gottes Segen sei über dir. Wisse, dass richtiges
Tauhid-Verständnis das ist, was im Qur´an über die Merkmale
Gottes offenbart ist. Daher halte dich von beiden extremen
Positionen fern. Du solltest weder seine Realität negieren,
noch sollst du Ihn dir in einer stofflichen Gestalt
vorstellen, denn Er ist weder irreal noch durch eine Form oder
Gestalt eingeschränkt. Er ist allwährend existierend, erhaben
über alles, was die Menschen von Ihm darstellen. Du sollst die
Grenzen, die im Qur´an gelegt sind, nicht überschreiten,
andernfalls wirst du trotz dieses großen Lichts in die Irre
gehen.“
In gewisser Weise kann man sagen, dass
“Ta’til“ in seiner ersten Bedeutung folgerichtig zur zweiten
Bedeutung von “Ta’til“ hinführt.
Wenn wir also behaupten, dass wir von dem
Ursprung gar keine Kenntnis haben, außer dass es Ihn gibt,
taucht die Frage auf, was mit “Ihm“ gemeint ist, wofür das
Pronomen eigentlich steht. Ein Pronomen können wir nur
anstelle eines uns bekannten Gegenstands verwenden; es müssen
genügend Kenntnisse über Ihn vorhanden sein, um Ihn für uns
von anderen unterscheidbar zu machen.
Stellen wir nun die Behauptung auf, vom
Ursprung der Existenz gar keine Kenntnisse zu besitzen, haben
wir ein Pronomen ohne zugehörigen Gegenstand oder anstelle
eines erdachten leeren Begriffs benutzt. Genau hier setzt die
Kritik vieler zeitgenössischer Materialisten an der
Religionsphilosophie an. Daher müssen wir – sollte Gott eine
Wirklichkeit darstellen – von dieser Wirklichkeit zumindest so
viel Kenntnis haben, um Ihn von anderen Wirklichkeiten
unterscheiden zu können.