1. Meine Kindheit und meine Schuljahre
Ich trete in Kölln ein.
Meine ersten Berührungen mit Passalacqua fielen gerade in
die Zeit, in der ich dem Köllnischen Real-Gymnasium, damals in
dem alten Rathause am Fischmarkt, zum zweitenmale als
Gymnasiast übergeben wurde. Ich ward der Quarta zugewiesen,
aber meine in der Bürgerschule erworbenen Kenntnisse waren zu
schwach, um allen Anforderungen zu entsprechen, und besonders
waren es die Sprache der alten Römer und die Schwierigkeiten
der Mathematik, die mir eine unsägliche Plage bereiteten. Zur
Privatnachhilfe reichten die Mittel der Familie nicht aus, und
so drückte ich volle zwei Jahre die harte Schulbank, ohne von
der Stelle zu kommen. Meine schriftlichen Arbeiten waren
kalligraphische Meisterstücke, aber ihr Inhalt gab Zeugnis von
der Quarta Unzulänglichkeit ihres schon vierzehnjährigen
Verfassers.
Von dem Hasse gegen das gesamte Lehrertum war ich
einigermaßen zurückgekommen. Der Direktor der Anstalt,
Professor Dr. August, und meine ehemaligen Lehrer besaßen
nicht nur hervorragende pädagogische Fähigkeiten, sondern auch
ein gründliches Wissen, das dem jungen Volke der Schüler
niemals entgeht, sobald es auf fester Grundlage ruht. August
war als Physiker und Mathematiker ein geschätzter Lehrer,
Barentin ein im Vortrag unübertrefflicher Meister in den drei
Reichen der Natur, Benari ein akademisches Licht, der das
Griechische und Lateinische beherrschte wie keiner und beide
Sprachen mit unglaublicher Fertigkeit redete. Seine
öffentliche Disputation in lateinischer Sprache mit dem
Verfasser der Promotionsarbeit unter dem Titel De morbo
democratico ist vielleicht noch im Gedächtnis meiner älteren
Zeitgenossen. Professor Kuhn, unter dessen Anleitung wir
deutschen und englischen Unterricht empfingen, ist der
gelehrteste und gründlichste Forscher auf dem Gebiete der
indogermanischen Sprachvergleichung gewesen, den meisten
bekannt durch eine nach ihm genannte Zeitschrift. Die Namen
meiner übrigen Lehrer: Holzapfel, Krech, Kuhlmei, Polsberw,
Runge, Selkmann, Lommatzsch u.a. weisen auf Männer von
Bedeutung in der Geschichte des Berliner Schulwesens hin, und
jedem einzelnen bin ich für das empfangene Wissen zur wärmsten
Dankbarkeit verpflichtet. Darf ich unter den ausgezeichneten
Meistern überhaupt von einer Auswahl sprechen, so würden die
Namen Holzapfel und Kuhlmei eine besonders leuchtende Stelle
in meinen Erinnerungen aus der Jugendzeit einnehmen. Sie waren
es, die mich im Lehrer wieder den wahren Freund seines
Schülers erkennen ließen. Beide zogen mich in ihr Haus und
füllten durch unentgeltlichen Privatunterricht die bestehenden
Lücken in meinem Wissen aus. Sie hatten Mitleid mit meinen
Schwächen, und bald empfand der junge Vogel die Kraft seiner
Schwingen, um im schnellen Fluge aus den niedrigen Regionen
der Schulklassen sich zu den obersten Schichten emportragen zu
lassen. Ich hatte angefangen meine Lehrer herzlich zu lieben
und ihnen die Beweise meiner Liebe durch eisernen Fleiß und
die regste Aufmerksamkeit zu vergelten.
Die Trefflichen ruhen heute alle im Grabe, nur Professor
Dr. Holzapf el, der später die Stelle eines Gymnasialdirektors
in Magdeburg übernahm, weilt noch unter den Lebenden. Ich habe
vor wenigen Monaten (im November 1892) die unbeschreibliche
Freude gehabt, ihn im Hause meines hochverehrten Freundes
Hermann Gruson als 82 jährigen geistesfrischen Greis nach dem
langen Zeitraum von 45 Jahren wieder begrüßen zu dürfen. Es
ist unnötig, meine tiefe Bewegung und seine eigene
thränenreiche Rührung zu schildern, als wir uns Auge ins Auge
sahen und jene stumme Sprache redeten, die mehr als die
klangreichsten Worte zu sagen vermag. Möge der Himmel die Zahl
seiner Jahre vermehren und ihm ein hohes glückseliges Alter
spenden!
Dr. Kuhlmei, eine nicht minder liebe Gestalt in meinem
Gedächtnis, war mir Lehrer und Freund zu gleich. Er war der
einzige, der von meinen stillen Arbeiten auf altägyptischem
Gebiete Kunde hatte und mit seinem vielumfassenden Wissen
meinem eigentümlichen Studiendrange auf einem eben erst
angebauten Gebiete der Altertumskunde seine kritische Richtung
verlieh. Seine reiche und ausgewählte Bibliothek stand mir
jeder Zeit zu Gebote, und ich habe im stillen darin gewühlt
wie der Geizhals in seinen Schätzen. Leider war es dem
liebenswürdigen Lehrer nicht vergönnt, sich später, nach
seiner Vermählung mit einer jungen adligen Dame mit dem
stolzen Namen von Bismarck, eines ungetrübten häuslichen
Glückes zu erfreuen. Er starb an gebrochenem Herzen, und
wehmütig begleiteten treue Schüler seine irdischen Überreste
nach ihrer letzten Ruhestätte.
Außerhalb der Schule verdankte ich ein gutes Teil meines
wiedergewonnenen Lebensmutes und, nebenbei bemerkt, meines
mathematischen Wissens einem Manne, dessen Namens ich eben
gedacht habe und dessen große Erfolge auf dem Gebiete der
Eisentechnik nicht nur das Vaterland, sondern das gesamte
Ausland in verdientem Maße zu würdigen verstanden hat, ich
meine den jetzigen Geheimrat H. Gruson.
Meine Eltern bewohnten damals ihr bescheidenes Heim, aus
Stube, Kammer und Küche bestehend, das auf der Hofseite und zu
ebener Erde in einem langgezogenen Hause in der Zigelstraße zu
Berlin gelegen war. Es fehlte der Klause nicht an Poesie.
Blätterreiche Weinstöcke, am Spalier gezogen, umrankten die
Fenster, welche unmittelbar die Aussicht nach einem kleinen
Garten des Wirtes öffneten. Ein Taubenschlag barg ein ganzes
Vögelvolk in sich und die muntere geflügelte Welt schien ein
Vergnügen daran zu finden, sich auf den, Fensterbrettern hin
und her zu bewegen und mit girrender Stimme an die kleinen
Glasscheiben zu picken. Ich saß vor meinem einfachen
Arbeitstische in der Ecke des Schlafzimmers und empfand an dem
Gebahren der Tauben eine selige Lust. Mir war es, als wollten
sie mich ins Freie hinauslocken, aber da lagen die Arbeiten
für die Schule auf dem Tische, nicht selten ein ägyptisches
Werk unter einer lateinischen Grammatik, dem alten Zumpt,
versteckt, denn ich fürchtete, den Tadel der Eltern zu
verdienen, sobald ich meine ägyptischen Geheimnisse offen zu
Tage legte. Meine Studien wurden im geheimen betrieben und
selbst des Nachts –. ich schlief in einem schmalen
Holzverschlag neben der Küche – fuhr ich in meiner Arbeit
fort, nachdem ich sorgfältig gesammelte Kerzenenden angezündet
hatte, um mir als Beleuchtung zu dienen.
Zwischen dem Garten vor der Wohnung und dem Ufer der Spree,
die an dem Gehöfte vorüberfloß, lag ein großer Platz, der
jeder Poesie entbehrte. Er diente als Stätte für die
Aufstellung von gebrannten Ziegelsteinen, welche von den
»Zillen«, die an der Spreeseite vor Anker lagen, auf
Bretterunterlagen ausgekarrt wurden, um mit klingendem Getöse
in Reih und Glied in turmähnlicher Gestalt aufgebaut zu
werden. Der Anblick war so alltäglich, daß ich schließlich das
Ziegelwerk als einen Störenfried betrachtete, denn die damit
belasteten »Zillen« raubten mir mein Hauptvergnügen nach
geschehener Arbeit: das Angeln von Fischen höchst
zweifelhafter Güte und Größe. Immerhin war meine treffliche
Mutter als sparsame Hausfrau gütig genug, meine häufige Beute
im gesottenen oder gebackenen Zustande auf den Tisch zu
bringen, bis mir endlich selber der Appetit verging und ich
die Angelrute an den Nagel hing. Auch ein anderes Hindernis
schwerwiegender Art trat meiner fortgesetzten Angellust
entgegen: mein eigner Bruder, der um diese Zeit, über 14 Jahre
nach meiner eignen Geburt, das Licht der Welt erblickte. Ich
erhielt die bevorzugte Stellung eines Kindermädchens, das den
späten Sprößling während der Freistunden in Licht und Wärme
hinaustragen mußte. Das war der sauerste Dienst in meinem
Leben, denn der unverständige Bruder pflegte gewaltig zu
schreien, und heimlich ausgeteilte »Knuffe« von meiner Hand
erwiesen sich gerade als das schlechteste Mittel, seinem
Gesange ein Ende zu bereiten. Die Ägypter lagen mir außerdem
im Kopfe, und das Hin- und Hertragen des juugen Weltbürgers
hinderte mich, meine Gedanken ihren ungestörten Lauf nehmen zu
lassen. Du goldene Jugend, wo war dein leuchtender Schimmer
für mich geblieben?
Von der Wohnung meiner Eltern nur durch einen schmalen Gang
getrennt, lagen ein paar Zimmer, welche zwei Junggesellen
gemietet hatten, um sich für ihren künftigen Beruf
vorzubereiten, beide aus Magdeburg gebürtig und beide im
gleichen Lebensalter von 21 Jahren flehend. Der eine war ein
hochaufgeschossener schöner Jüngling mit den freundlichsten
Zügen in dem Gesicht, das von blondem Haar beschattet war,
seines Zeichens ein Techniker im Maschinensache, der andere,
eine kleine, untersetzte Gestalt mit einem klugen Kopfe und
dunkelbraunem, lockigen Haare darauf, hatte sich dem Banksache
gewidmet. Sie lebten schlicht und einfach, wie es ehrsamen
jungen Gesellen geziemt, und ruhten nach vollendetem Tagewerk
nur aus, um sich der fortgesetzten Arbeit und dem Studium mit
eifrigstem Bemühen hinzugeben. Vor den anziehenden Lüsten
dieser Welt hüteten sie sich weislich, schon aus dem einfachen
Grunde, weil ihre Mittel nur bescheidener Art waren. An
Lebensfreudigkeit fehlte es ihnen durchaus nicht, denn sie
sangen wie die Nachtigall im Busch.
Der zuerst Genannte ist als Erfinder des Hartstahlgusses
und als Begründer eines großartigen Industriewesens für die
Herstellung von Kanonen und Panzerplatten der ganzen Welt
später bekannt geworden, es ist Hermann Gruson; der zweite
endete mit dem günstigsten Abschlusse seines Lebens,[38] denn
er hat sich als reicher Mann zurückziehen können, um in Berlin
in der Ausübung gottgefälliger Werke ein frommes Dasein zu
führen. Sein Name Lösche ist vielleicht dem einen oder anderen
Leser bekannt.
Da meine Mutter eine Landsmännin beider Zimmergenossen war,
so stellten sich bald freundliche Beziehungen zwischen den
beiden Wohnungen her und ich konnte es wagen, mich dem
angestaunten Gruson zu nahen, wenn mathematische
Schwierigkeiten in meinen Schularbeiten mich von meinen
altägyptischen Lieblingen fernhielten. Auf einer schwarzen
Tafel, die an der Thür der inneren Wohnung befestigt war,
mußte ich mit Kreide Dreiecke, Vierecke und Kreise mit ihren
Winkeln, Tangenten und Segmenten malen und unter Grusons
lustiger Führung Ansatz und Auflösung regelrecht konstruieren.
Die mathematische Wissenschaft machte mir unter solcher
Anleitung zuletzt eine wahre Freude, die sich in Stolz auf
meinen Lehrer umwandelte, als ich ihn einstmals in der
kleidsamen Uniform eines schmucken Pionier-Offiziers über den
Hof gehen sah.
Erst dreiundfünfzig volle Jahre sollten bis zum Wiedersehen
vergehen, wie ich es später dem geneigten Leser erzählen
werde. Die verflossene Zeit war lang genug, reichte aber nicht
aus, um uns beide aus dem gegenseitigen Gedächtnis zu
verlöschen.
Meine geistige Entwicklung machte schnelle Fortschritte und
bald war ich so weit gekommen, als Schüler in den oberen
Klassen des Gymnasiums schwächeren Mitschülern Unterricht zu
erteilen und durch die gewonnenen Einnahmen zur Bestreitung
der Kosten für des Lebens Notdurft und Nahrung in der Familie
beizutragen. Auch meines Vaters Stellung hatte eine Wendung
zum Besseren genommen; man konnte sogar daran denken, die
Miete für eine größere und teuere Wohnstätte zu erschwingen,
die in demselben Hause in der zweiten Etage des
Vordergebäudes, an der Artilleriestraße, dicht an der
Ebertsbrücke, nach kurzem Suchen glücklich gefunden ward.
Inzwischen hatten meine von mir als Autodidakt begonnenen
Studien der altägyptischen Inschriften einen segensreichen
Fortgang gefunden und vor allem auf dem Gebiete der
demotischen oder ägyptischen Volksschrift, mit deren
Entzifferung ich mich fortdauernd beschäftigt hatte, zu
wichtigen Entdeckungen geführt, deren Bedeutung ich selber
nicht abzuschätzen vermochte. Man kannte bisher nur den
alphabetischen Wert weniger Buchstaben, die zur Umschrift
griechischer und römischer Namen dienten, während alles übrige
in finstere Dunkelheit gehüllt war. Selbst über das System
dieser Schriftgattung herrschten Widersprüche unter den
Gelehrten, die es überhaupt der Mühe wert gehalten hatten,
sich mit ihr näher zu beschäftigen. Die Schwierigkeiten der
Entzifferung erschienen damals unüberwindlich.
Heutzutage erliegt es keinem Zweifel mehr, daß diese
Schrift aus den verkürzten hieratischen Schriftzügen, der
Kurrentschrift der hieroglyphischen, hervorgegangen war, um
die damalige Volkssprache zum Ausdruck zu bringen, die
grammatisch und syntaktisch die größten Abweichungen von der
alten und ältesten Sprache erkennen läßt. Dies nachzuweisen
ist heutzutage kein Kunststück mehr, nachdem ich in meiner
eisernen Jugendzeit durch jahrelange Arbeiten bis tief in die
Nacht hinein die Rätsel von Fall zu Fall gelöst hatte. Aus dem
Studium der sogenannten demotischen Kaufkontrakte des Berliner
Museums, des demotischen Teiles der Inschrift von Rosette, der
gnostischen Papyri von Leyden und ähnlicher Denkmäler hatte
ich bereits im Alter von 16 Jahren eine vollständige Grammatik
der demotischen Schriftsprache in lateinischer[40] Abfassung
zusammengestellt, deren Lektüre mir noch heute das größte
Vergnügen bereitet.
Auf dem Gymnasium wurden meine Fortschritte in allen
Zweigen des Unterrichtes von den Lehrern mit dem größten Lobe
anerkannt, und ich ließ es mich nicht verdrießen, auch im
Hebräischen unter Leitung des Professors Lommatzsch mir meine
Sporen zu verdienen. Mit meinen Mitschülern stand ich auf dem
besten Fuße. Freundschaften wurden »fürs Leben« geschlossen;
wenn auch mit Bezug darauf sich später manche Enttäuschung
einstellte. Die beiden Prinzen von Reuß (der eine ist heute
der deutsche Gesandte in Wien), der Staatsminister von Puttka
mer, die beiden Herren von Prillwitz, die von Klitzing, von
Caprivi, der Bildhauer Sußmann(-Helborn), der Hofschauspieler
Hiltl, die Architekten Lucä und Ende und manche sonstige
später bekannte Persönlichkeit unserer Zeit saßen mit mir in
derselben Klasse unter dem milden Regimente unseres verehrten
Direktors August.
Dem ausgebreiteten Wissen des letzteren stand eine
unglaubliche Zerstreutheit zur Seite, die sich gelegentlich in
Worten und Handlungen äußerte und den Stoff zu den lustigsten
Geschichten lieferte, wie sie vom Schuldasein unzertrennlich
sind. Daß er einmal »mit dem linken Auge durch ein Prisma
sehen und mit dem rechten Auge den Bleistift halten ließ, um
den Beobachtungswinkel zu notieren«, war noch lange nichts
Außergewöhnliches. Manch übermütiger Schüler benutzte das
volle Versenktsein des braven Direktors in seinen Gegenstand
zu losen Streichen, die mir noch in diesem Augenblicke
unwillkürlich ein Lächeln abgewinnen. Ich erinnere mich
insbesondere zweier Fälle, die der ganzen Klasse das größte
Gaudium bereiteten, ohne daß Professor August auch nur die
mindeste Ahnung von den Absichten des Unthäters besessen
hätte. Eines schönen Tages sollte ein bekanntes physikalisches
Experiment, die Höhe eines Ortes aus der Zeit der
Fallgeschwindigkeit eines Körpers zu berechnen, an einer
praktischen Demonstration nachgewiesen werden. Die Primaner
stiegen bis zur Flurhöhe des vierten Stockwerkes des alten
Gebäudes hinauf, der Direktor hielt in der einen Hand eine Uhr
mit Sekundenzeiger, in der andern eine Bleikugel, die in einem
gegebenen Momente losgelassen werden sollte, um in die Tiefe
zwischen den Treppengeländern zu sinken und durch ihren
Aufschlag auf den Boden des untersten Flures den Augenblick
ihrer Ankunft und damit das Zeitmaß der vollendeten
Fallgeschwindigkeit anzugeben. Drei Kugeln fielen der Reihe
nach aus der Hand des Direktors, ohne einen hörbaren Aufschlag
in der Tiefe zu hinterlassen. Das war durchaus erklärlich,
denn der jüngere von Prillwitz hatte sich nach dem
nächstliegenden unteren Stockwerk geschlichen und in seinem
Hute die fallenden Kugeln aufgefangen. Der Direktor war vom
höchsten Erstaunen ergriffen, denn sein Auge hing stets an dem
Sekundenzeiger, und er hat es niemals erfahren, welcher Schalk
bei dem jedesmal verunglückten Experimente ihm einen Streich
gespickt hatte. Derselbe Primaner, der später als Offizier in
das Regiment der Garde-du-Corps in Berlin eintrat, sollte
eines schönen Tages einen mathematischen Beweis an einer
Dreiecks-Figur vor dem versammelten Kriegsvolke und in der
Gegenwart des Dirigenten durchführen. Er trat vor die Tafel,
malte mit einem Kreidestückchen das verlangte Dreieck auf den
schwarzen Grund und es entspann sich folgende Unterhaltung:
Pr. »Man denke sich ein Dreieck E–M–A.«
Dir. »Wie sonderbar! Man bedient sich der Buchstaben A–B–C.«
Pr. »Das kann ich nicht, Herr Direktor.«
Dir. »Weshalb denn nicht?«
Pr. »Weil ich EMA zärtlich liebe!«
Wir brachen alle in ein homerisches Gelächter aus, denn man
muß wissen, daß Direktor August eine anmutige Tochter besaß,
welche den Vornamen Emma trug. Demselben Pr. gelang es, eine
ungeheure Heiterkeit hervorzurufen, als ein würdiger Lehrer,
der aus Sachsen gebürtig war und dem P-Buchstaben die
Aussprache des B verlieh, einen von Pr. verfaßten deutschen
Aufsatz verlas, in dem es von P und B förmlich wimmelte und
dessen Anfang ich niemals habe vergessen können. Er lautete:
»Von dem Potsdamer Platze pilgert das Publikum zwischen
paarweis postierten prachtvollen Pappeln mit Postpaketen
bepackt nach dem Botanischen Garten.« Man kann sich
vorstellen, welches die Wirkung war, als der würdige Sachse
die litterarische Leistung des hoffnungsvollen Schülers mit
lauter Stimme uns vorlas. »Das ist pure Poesie!« erwiderte Pr.
und ein neuer Ausbruch allgemeinster Heiterkeit war die Folge
seiner kecken Antwort.
Es ist merkwürdig, wie ansteckend hervorragende
Eigenschaften mancher Schüler auf eine ganze Klasse ihren
Einfluß ausüben. Das war bei meinem nunmehr verstorbenen
Freunde Hiltl der Fall, der als königlicher Schauspieler,
vaterländischer Schriftsteller und zuletzt als artistischer
Direktor der Waffensammlung im Zeughause, der jetzigen
Ruhmeshalle, sich eines wohlverdienten Rufes in der
öffentlichen Welt erfreute. Noch Sekundaner, verteilte er an
uns übrige die Rollen der Hauptpersonen in Schillers
Schauspielen, und es wurde in den Zwischenstunden Theater
gespielt mit allem Pathos begeisterter Histrionen. Den Schluß
bildete regelmäßig ein Nachspiel, in welchem ein
mittelalterliches Turnier als Glanzpunkt diente. Das Gestampfe
der Pferde, d.h. unserer eigenen Füße war von donnerähnlicher
Wirkung, und dicke Staubwolken wirbelten vom Boden bis zur
Decke auf. Ein aufgestellter Beobachtungsposten an der Thür
sorgte für jede unliebsame Überraschung seitens der Lehrer.
Direktor August war mir im späteren Dasein ein teurer,
guter Freund und ein aufrichtig ergebener Gönner geworden, den
ich über alles liebte und dessen Hinscheiden mich mit tiefem
Schmerze erfüllte.
Meine Gymnasialausbildung näherte sich ihrem Schlusse. Ich
saß in der Ober-Prima, zeichnete mich durch ernstes Streben
und durch meinen Fleiß im Lernen und in meinen schriftlichen
Arbeiten aus und gewann die Zuneigung aller meiner Lehrer. Das
Schlachtbeil meiner heimlichen ägyptischen Entzifferungen
hatte ich indes nicht vergraben. Nach vollendetem Pensum für
die Schule saß ich bis spät nach Mitternacht am Tische vor
hieroglyphischen und demotischen Inschriften, um ihre Rätsel
zu lösen und meine handschriftliche Grammatik der alten
Volkschrift durch neue Entdeckungen zu berreichern.
Passalacqua verfolgte mit der gespanntesten Teilnahme den Gang
meiner Arbeiten, die ihm mehr als bloß beachtenswert
erschienen. Wenn ich aus dieser Zeit noch zweier Personen
gedenke, des gegenwärtigen Geheimrats Kunstman, dessen heitere
Laune und Witz von da mals bis auf den heutigen Tag nichts an
Berliner Salz eingebüßt haben, und meines eigenen Onkels
Benecke, so geschieht es, um ihnen hiermit den schuldigen
Tribut herzlichster Dankbarkeit noch in meinen späten
Lebensjahren abzutragen. Beide waren Beamte der königl.
Bibliothek in Berlin und beide ließen es willig durchgehen,
daß dem jungen Primaner die gewünschten wissenschaftlichen
Werke größeren und kleineren Umfanges anstandlos auf Zeit
übergeben wurden. Ich selber war nicht in der Lage, aus
eigenem Mitteln mir die meistens seltenen und kostbaren Bücher
anzuschaffen, wenn auch meine Sehnsucht nach dem Besitz
wenigstens der wichtigeren von Tage zu Tage wuchs und ich
alles[44] aufbot, um aus meinen ärmlichen Spargroschen mich in
den Besitz dieses und jenes Buches zu setzen. Ich erinnere
mich noch lebhaft, wie mir das Herz im Leibe schlug, als es
mir gelungen war, Champollions weltberühmtes Werk »Précis du
système hiéroglyphique« käuflich zu erwerben, und wie ich
meinen Schatz an die Brust drückte und atemlos nach Hause
eilte, um seinen köstlichen Inhalt förmlich zu verschlingen.
Das waren Festtage, die mir im Leben nie wiedergekehrt sind. –
Da geschah im Jahre 1847 etwas für mich Außerordentliches.
Idelers, des Sohnes, Bücherei sollte nach seinem Tode
öffentlich versteigert werden. Das gedruckte Verzeichnis wies
einen wahren Reichtum von Werken und Abhandlungen nach, die
sich mit meiner eigenen Wissenschaft berührten und mir,
wenigstens für damalige Zeit, von höchstem Werte erschienen.
Gesprächsweise teilte ich meinem älteren Freunde Passalacqua
meinen Jammer mit, die Quelle vor mir fließen zu sehen, ohne
meinen brennenden Durst aus ihrem Wasser löschen zu können.
»Ich weiß einen Ausweg«, fiel er mir in die Rede, nachdem ich
ihm über den Gegenstand meiner Wünsche weitere Mitteilung
gemacht hatte, »richten Sie an Se. Majestät den König
Friedrich Wilhelm IV. eigenhändig ein Bittgesuch, um Seine
Gnade für Sie, den ich stolz bin meinen Schüler zu nennen, in
warmen Worten anzurufen und um eine Unterstützung zum Ankauf
der von Ihnen gewünschten Werke zu flehen. Se. Majestät ist
für jeden Erfolg auf dem Gebiete der ägyptischen
Altertumswissenschaft begeistert, – denken Sie an die Opfer,
die er für Lepsius' Expedition dargebracht hat, – und da dem
edelmütigen Fürsten das wärmste Herz im Busen schlägt, so bin
ich fest davon überzeugt, daß er Ihr unterthänigstes Gesuch
freudig gewähren wird. An meiner Empfehlung soll es nicht
fehlen.« Und also geschah es. Das Bittgesuch wurde dem König
überreicht und mit wahrer Aufregung sahen wir der Antwort
entgegen.
Eine ganz unerwartete Ehre sollte mir bald darauf zuteil
werden, der Besuch des Professors Dr. Lepsius, dessen Ruhm
damals nicht bloß Preußen, sondern die ganze Welt erfüllte. Er
war von seiner großen Reise zur Erforschung der Denkmälerwelt
in Ägypten, Äthiopien und der Sinaï-Halbinsel zurückgekehrt
und hatte das Vertrauen seiner hohen Gönner, Alexander von
Humboldt und Josias von Bunsen, die ihn und seine Zwecke der
Huld des für Wissenschaft und Kunst begeisterten Königs
empfohlen hatten, in der glänzendsten Weise gerechtfertigt.
Jede Kritik über den damaligen Wert seiner erfolgreichen
Untersuchungen muß vor der Thatsache verstummen, daß seine
Arbeiten sich durch eine ungewöhnliche Schärfe der Auffassung,
durch ihre Klarheit der Darstellung und durch ihren
lehrreichen, selbst vor Zweifeln nicht zurückschreckenden
Inhalt auf das vorteilhafteste vor allen bisher erschienenen
Leistungen auf demselben Gebiete auszeichneten. Die in
derselben Zeit veröffentlichten Tafeln seines bekannten großen
Denkmälerwerkes, von der kundigen Hand der beiden Brüder
Weidenbach, des Zeichners Eirund und des Architekten Erbkam
ausgeführt, lieferten das glänzendste Zeugnis für die
unbestreitbaren Verdienste des jungen Professors, der eine
neue Epoche der bisher vereinsamten Ägyptologie geschaffen
hatte und vor allem dazu beitrug, den Glanz des Namens seines
königlichen Beschützers in hellstem Lichte strahlen zu lassen.
Die Gunst des Schicksals hatte ihn durch eine reiche Heirat
vor den Plagen und Sorgen des gewöhnlichen Lebens sicher
gestellt, so daß die junge Berühmtheit nach jeder Richtung hin
glücklich zu preisen war. Sein Haus in der Behrenstraße,
später in der Bendlerstraße, war eine Pilgerstätte zahlreicher
Fremden geworden, die kamen, um ihm ihre Huldigungen zu
beweisen. Zu seinem Kreise gehörte alles, was in der Politik,
Wissenschaft und Kunst einen Namen von Bedeutung trug, und
Lepsius selber erschien als der Mittelpunkt, der eine
unwiderstehliche Anziehungskraft auf alles Gute und Schöne
ausübte. Fügen wir hinzu, daß seine äußere Erscheinung mit dem
feingeschnittenen Gesichte und den geistvollen Zügen, die
bisweilen jedoch eine gewisse Kälte und Härte verrieten, einen
vornehmen Eindruck hinterließ, so haben wir in der Hauptsache
erschöpft, was sich von der hervorragenden Persönlichkeit des
berühmten Mannes in der damaligen Zeit sagen ließ.
Im stillen war ich ein Bewunderer seines wissenschaftlichen
Namens, aber jede Hoffnung lag mir fern, mich jemals seiner
Aufmerksamkeit zu erfreuen. Der Abstand zwischen dem berühmten
Manne und dem Gymnasiasten war zu groß. Man wird es mir
nachfühlen, wie erschrocken ich war, als Lepsius in die
bescheidene Stube des Soldatenkindes eintrat und mit mir eine
Unterhaltung anknüpfte, die eher einer Prüfung als einem
Austausche allgemeiner Gedanken ähnlich sah. Auf seinen
ausgesprochenen Wunsch legte ich ihm die Blätter meiner
demotischen Grammatik vor, von der Passalacqua eine besondere
Abschrift besaß.
Als ich am nächsten Tage das Gymnasium betrat, wurde ich zu
meinem Direktor gerufen, um Auskunft über meine Beziehungen zu
Lepsius zu geben. Dieser habe sich bei ihm und dem übrigen
Lehrerpersonal nach meinem Fleiße und meinen Anlagen erkundigt
und wahrheitsgemäß eine befriedigende Antwort darauf erhalten.
Mein Direktor bezeugte mir sein Erstaunen darüber, daß ich
mich mit altägyptischen Studien befaßt habe, und lobte mich im
allgemeinen zwar, doch ohne seine stillen Zweifel über den
Wert meiner eigenen Studien zu unterdrücken. Er riet mir
deshalb, erst mein Abiturienten-Examen abzulegen und später
auf der Universität meine begonnenen Arbeiten fortzusetzen.
Kleinlaut, fast beschämt, verließ ich das Zimmer des guten
Direktors mit dem festen Vorsatze, seinem väterlichen Rate zu
folgen und die Ägyptiaca ganz an den Nagel zu hängen. Zum
Studieren besaß ich nicht die erforderlichen Mittel, und mein
Entschluß war gefaßt, nach dem Vorschlage meines Vaters die
Laufbahn eines subalternen Beamten in einem Ministerium nach
meiner bestandenen Prüfung als Abiturient einzuschlagen. Meine
schöne Handschrift sei meine beste Empfehlung für meine ganze
spätere Zukunft. Sogar zwei Unteroffiziere und ein Feuerwerker
der Artillerie, die er mir mit Namen nannte und die mir
wohlbekannt waren, seien neulich auf Grund ihrer guten Schrift
in ein Ministerium eingetreten und sie hätten sicherlich sehr
klug gehandelt. Mein Vater war ein Prophet gewesen, denn alle
drei Personen bekleiden heutzutage die hohe Stellung von
Geheimräten, haben eine gewichtige Stimme im Amt und besitzen
Haus und Hof und was man sonst die Güter dieser Welt nennt.
Ich habe häufig die Gelegenheit, sie zu sehen und zu sprechen,
mit aller Teilnahme alter Erinnerungen von ihrem Glücke zu
hören und mir in der Stille meines Herzens den Vorwurf zu
machen, nicht dem treuen Rate meines lieben Vaters besser
gefolgt zu sein.
Es vergingen einige Wochen nach dem Besuche des Professors
Lepsius, als plötzlich eines Abends Direktor Passalacqua in
unsere Wohnung eintrat und mit allen Zeichen höchster
Aufregung einen Bescheid aus der Tasche zog, der ihm von
amtlicher Seite her auf seine Empfehlung zu teil geworden war.
Ihr Inhalt war in der That niederschlagend. Es hieß darin mit
klaren Worten, ich sei ein sehr mittelmäßiger Schüler auf dem
Gymnasium, besäße mehr Einbildung als wirkliche Kenntnisse auf
dem Gebiete der ägyptischea Forschungen, die meinen Geist vou
allem wirklich für mich Nützlichem ableiteten, und erwecke
deshalb keine Hoffnungen für zukünftige Erfolge, die höchstens
unter richtiger Leitung einiges versprechen könnten. Die
Ablehnung des Gesuches wäre damit vollständig begründet und es
schließlich dem Direktor anheimgestellt, in der Beurteilung
aufstrebender Talente in Zukunft mit angemessener Vorsicht zu
verfahren.
Wie eine Bombe hatte der Schlag mein Haus getroffen und uns
alle in die größte Bestürzung versetzt. Mein ehrenfester Vater
insbesondere fühlte ihre Erschütterung, als ihm durch seinen
Chef, den damaligen Kommandeur der Leib-Gendarmerie, den
liebenswürdigen Obersten, spätern General und Oberstallmeister
des Königs von Alvensleben, der wohlgemeinte Rat erteilt
wurde, mir trotz meiner schönen Handschrift ein wenig auf die
Finger zu sehen und mich streng abzuhalten, Veranlassung zu
Eingaben an die Person des königlichen Herrn zu geben. Das war
zu viel für sein militärisches Herz und ich mußte es nach
seiner Rückkehr ins Haus in harten Vorwürfen empfinden, wie
tief ihn die dienstliche Zurechtweisung ins Fleisch
geschnitten hatte. Trotzdem war die Sache nicht mehr
rückgängig zu machen, denn Passalacqua hatte Stein und Bein
darauf geschworen, es den Erbpächtern der Weisheit
einzutränken, und der heißblütige Charakter seiner Nation kam
in seinem Wesen zum vollsten Ausbruch.