Mesnevi

Mesnevi

Dschalaleddin Rumi

Aus dem Persischen übertragen von Georg Rosen

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Der Mystiker im Garten

(Mesnevi, Buch IV.)

Ein Mystiker in einem Garten sitzt
Nach Sufi-Art, das Haupt auf Knie gestützt,
In Träumereien ganz dahin geflossen.
Da rüttelten ihn endlich  die Genossen:
„Was dämmerst du dahin? Blick um dich nur,
Wie's ringsum spross und sprießt in der Natur,
Wie Bäum' und Büsche steht in Frucht und Blüte,
O sie die Zeichen doch Allahs Güte!“
Er sprach: „Die Zeichen fühlt, o Sinnenmensch!
In ihrer Tiefe nur der Innenmensch.
Das kann die Außenwelt doch nie erreichen;
Und äußre Zeichen sind nur äußre Zeichen.
Die grünen Gärten sind dem innren Blick
Wie Bilder, die das Wasser wirft zurück.
Es ist doch scheinbar nur der Wahrheit gleich
Das Bild, das widerspiegelt dieser Teich.
Im Herzendgrund sind wirklich Frucht und Baum,
Was du da draußen siehst, ist nur ein Traum.“

Und an einer anderen Stelle führt Rumi aus, wie der Mensch, schon wegen der Kürze seines Erdendaseins, nicht imstande ist, sich aus dem, was er hier wahrnimmt, auch nur eine Vorstellung von dem Weltgeschehen in den ungemessenen Äonen der Vorzeit und Nachzeit zu machen:

„Was weiß die Mücke wohl, wie lang' dieser Garten besteht?
Sie, die im Frühling kam und im Herbst schon wieder vergeht!“

Somit ist also die einzige reine Quelle der Erkenntnis die Meditation (muraqiba, bei den Indern dhyan), und auf diesem Punkte sind denn auch die von der Mystik beherrschten Völker stehengeblieben. 14 Die weitere Entwickelung eines Erkenntnisweges ist ihnen danach abgeschnitten. Wer den Zustand der Gottesnähe erlangt hat, hat damit alles Wissenswerte in sich und braucht nicht weiter zu suchen.

Um aber diesen ersehnten Zustand zu erreichen, muss man einen weiten und mühevollen Weg beschreiten, „aus dem man stufenweise aufwärts steigt“, von der ersten Stufe der Entsagung (tabattul), zur letzten der Selbstvernichtung (sena). Wir hatten bereits gesehen, wie schon die Zeitgenossen an Rumi die Ausstellung machten, dass er nicht, wie andere geistliche Führer, eine genaue Stufenleiter aufgerichtet hatte, auf der man mit Sicherheit, wenn auch nicht ohne Beschwerlichkeit, zu diesem Ziele gelangen konnte. In dem flutenden Gewoge mystischer Gedanken und Empfindungen vermisste der Nüchterne die mathematischen Linien eines klar erkennbaren Systems, während der Begeisterte seine ganze Lebensphilosophie darin fand. In Wirklichkeit hat Rumi seinen Jüngern und Nachfolgern viel mehr als ein solches System gegebn. Er hat sie auf dem Pfad der göttlichen Liebe geführt, einen Pfad, den wohl keiner von den vielen persichen, türkischen und hindustanischen Mystikern mit gleicher Hingabe gewandelt ist. Ihm ist die große und die kleine Welt, ist Diesseits und Jenseits nichts als die nun einmal unvermeidliche Grundlage, auf der er seine mystische Lehre von der Vereinigung mit der Weltseele aufbaute. Jede der vielen Erzählungen des Mesnevi hat nur dieses eine Ziel, der Koran und alle Religionen nur diesen einen Sinn. Alle Bilder und Gleichnisse, welche der durch die Sinne wahrnehmbaren Welt entlehnt sind, kranken zwar an der Unvollkommenheit, die ihr nun einmal anhaftet,aber er bedient sich ihrer, weil der menschliche Geist nicht vollkommen, nicht geläutert genug ist, um ohne sie sich eine Vorstellung von dem Absoluten zu machen. In der intensiven Leidenschaftlichkeit, mit der er in diesem Gedanken aufgeht und auch vielfach in der Art, wie er auf den gegebenen Heilswahrheiten seine Theorrien aufbaut, erinnert Rumi oft an den Apostel Paulus, dessen Werk er in Ronia, dem alten Jeonium, zweifellos kennen gelernt hat.

So sehr aber überhaupt die Annäherung des Sufismus und speziell Rumis an das Christentum auffällt, so weit ist doch auch wieder die Kluft, die ihn davon trennt, zumal auf dem Gebiet der Ethik. Zwar geht Rumi, im Gegensatz zu vielen seiner muhammedanischen Zeitgenossen, von der Voraussetzung eines in gewissen Grenzen freien Willens aus, der dem Menschen hinreichende Verantwortung lässt, um ihm noch die Tugend zu ermöglichen; dabei herscht aber doch bei ihm so sehr die Ergebung in das Schicksal oder in den Willen einer höheren Macht vor, dass seine Sittenlehre sich nie zu der Höhe und Wertigkeit der christlichen Ethik emporschwingt. „Islam“ heißt „Hingebung“, und über Hingebung kommt auch Rumis Ethik nicht hinaus.

Indessen ist die sufische Ethik ein weites Feld und ein langes, bisher noch fast ungeschriebenes Kapitel, auf das hier, so wichtig es auch ist, nicht näher eingegangen werden kann. Ihre Darlegung würde den Rahmen dieser kurzen Skizze weit überschreiten. Der Leser wird darüber aus dem Werke Georg Rosens ein ziemlich vollständiges Bild gewinnen. Meine Absicht war auch, nur in Ergänzung dessen, was Georg Rosen aus dem ersten Buche des Mesnevi gebracht hatte, unter Benutzung des übrigen fünf Bücher des Mesnevi und des Diwans einen Einblick zu eröffnen auf die Zusammenhänge der Weltanschauung Rumis mit der griechischen Philosophie, speziell mit der platonischen und neuplatonischen Lehre. 15 Es sollte damit der Blick des Philosophen, des Religionsforschers, des Kulturhistorikers auf diese interessanten Zusammenhänge gelenkt werden. Und es handelte sich darum, das uns vielfach so seltsam und befremdend anmutende Werk des großen orientalischen Mystikers einzureihen in das ununterbrochene Kettengewebe der menschlichen Geistesarbeit aller der Völker, welche von der Bildung des klassischen Altertums beherrscht waren. Ich habe dabei absichtlich darauf verzichtet, auf parallele Entwicklung, wie sie das Christentum und auch die indischen Religionen in ihrer Mystik bieten, hinzuweisen. Vielleicht wird dies von berufener Seite noch geschehen. Ich möchte hier nur noch ein Wort über die Bedeutung sagen, die das Studium eines für die ganze Geistesrichtung großer Völkergruppen bezeichnenden und maßgebenden Werkes für die tiefere Kenntnis ihrer geschichtlichen Entwicklung besitzt. Wenn jemals der Geschichtsforscher – und mit ihm der Staatsmann – sich daranmachen sollte, die Geschichte des Orients aus seinem inneren Leben zu verstehen, dann wird ihm das Studium solcher Zersetzungselemente wie die Mystik, das er jetzt meist kaum beachtet, unentbehrlich sein zur Beurteilung der Vergangenheit und auch der tieferen Grundlage der Gegenwart. Er wird in derartigen geistigen Strömungen und in deren jahrhundertelangen Kulturkämpfen das Band finden, das die anscheinend losen und unzusammenhängenden Ereignisse aufreiht und verbindet. Er wird damit den Prüfstein gewinnen, an dem er erkennt, welche sozialen und politischen Veränderungen organisch entwickelt oder assimiliert werden können und welche, nur äußerlich eingesetzt, von der Volksseele als Fremdkörper empfunden und im natürlichen Verlauf der Geschichte wieder ausgestoßen werden müssen. Genug, er wird einigermaßen dahin gelangen, die Frage zu beantworten, welche staatlichen und sozialen Organismen im modernen Völkerleben lebens- und entwicklungsfähig sind und welche nicht. Die äußere Geschichte der islamischen Staaten wird dann für ihn weniger Überraschung bieten. Wer aber diese in den islamischen Gemeinwesen treibenden oder hemmenden Ideen und Kräfte nicht kennt, der hat noch nicht seinen Fuß in den Pfad gesetzt, der zum Verständnis der Geschichte wie der Politik des Orients führt.

Aber darauf beschränkt sich der Wert dieser Studien nicht: Auch für uns selbst können wir vielen daraus lernen, selbst wenn wir uns ganz frei fühlen sollten von allen Schwächesymptomen alternder Kulturformen. Am kranken Organismus erkennen wir oft erst die Gesetzte des gesunden.

Cintra, den 24. September 1912.

Friedrich Rosen.

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