Nahdsch-ul-Balagha
Pfad der Eloquenz - Nahdsch-ul-Balagha

Aussprache: nah-dschul-balagha
arabisch:
نهج البلاغة
persisch:
نهج البلاغة
englisch: Peak of Eloquence

Mehr zum Thema siehe: Nahdsch-ul-Balagha

Nahdsch-ul-Balagha - Pfad der Eloquenz

18. Predigt – Tadel an Meinungsverschiedenheit der Gelehrten

In dieser (Predigt) tadelte er die Meinungsverschiedenheit der Gelehrten in (ihren) Rechtsgutachten, und er tadelt die Leute, die nach eigener Meinung urteilen [ahl al-rayy] und überträgt die Urteilskompetenz in Religionsangelegenheiten dem Qur´an.

Wenn eine Angelegenheit vor ihn gebracht wird, worüber geurteilt werden soll, so urteilt er darüber nach seiner Meinung. Wenn dann genau die gleiche Angelegenheit vor einen anderen gebracht wird, so urteilt er gegenteilig zu dem, was (vorher) gesagt wurde. Dann gehen die Richter gemeinsam damit zum Imam, der sie zu Richtern ernannt hat, und der bestätigt ihre Meinungen allesamt – und ihr Gott ist Einer (und derselbe)! Und ihr Prophet ist einer (und derselbe)! Und ihr Buch ist eins (und dasselbe)! Hat Allah, Der Erhabene, ihnen befohlen, dass sie verschiedener Meinung sein sollen, und sie haben ihm gehorcht? Oder hat er das ihnen verboten, jedoch sie waren ihm ungehorsam?!

Oder hat Allah, Der Erhabene, eine unzulängliche Religion herabgesandt und sie um ihre Hilfe ersucht, um sie zu vervollständigen? Oder waren sie Seine Teilhaber, so dass es ihnen zusteht, es zu sagen, und es Seine Pflicht ist, Sein Einverständnis zu geben? Oder hat Allah, Der Erhabene, eine vollkommene Religion herabgesandt, aber der Gesandte (s.) war unzulänglich in deren Verkündung und Ausführung? Und Allah, Der Erhabene, sagt: „Wir haben nichts vom Buche vernachlässigt[1], darin wird jegliches Ding dargelegt, und Er erinnerte daran, dass (Teile des) Buches einander bestätigen, und dass es keine Kontroverse darin gibt, und Er sagte: „Wäre er von einem anderen als von Allah, sie hätten darin viel Widerspruch gefunden.“[2]

Wahrlich, das Offenkundige des Qur´ans ist elegant, und sein Innerstes ist tief. Seine Wunder werden nicht vergehen, sein Erstaunliches wird nicht verlöschen, und die Finsternisse können nur mit ihm erhellt werden.

Erläuterung

Es ist ein vieldiskutiertes Problem, dass, falls es kein klares Argument über eine Angelegenheit im Religionsgesetz gibt, es in Wirklichkeit dennoch ein Gesetz darüber gibt oder nicht. Die Meinung, die Abu´l Hassan al-Asch´ari[3] und sein Lehrmeister Abu Ali al-Dschubba´i sich zueigen machten, ist, dass Allah in so einem Fall kein besonderes Verfahren angeordnet hat, nachdem gehandelt werden muss, sondern dass Er die Aufgabe zugeteilt hat, es herauszufinden und den Juristen ein Rechtsgutachten zu geben, so dass, was immer sie für verboten halten, als verboten betrachtet werden sollte, und was immer sie für erlaubt hielten, als erlaubt betrachtet werden sollte. Und wenn einer eine Ansicht hat und der andere eine andere, dann wird es so viele Rechtsgutachten geben, wie es Meinungen gibt, und jede davon würde den letztendlichen Befehl repräsentieren; z.B., wenn ein Gelehrter sagt, dass Gerstenmalz verboten ist und ein anderer sagt, dass es erlaubt ist. Das heißt, für den, der es für verboten hält, ist dessen Konsum verboten, wohingegen es für den anderen erlaubt sein würde.

Über diese Theorie schreibt Abdulkarim al-Schahristani: „Eine Gruppe von Theoretikern meint, dass in Angelegenheiten, in denen die selbständige Rechtsfindung [Idschtihad] nach Qur´an und Sunna angewandt wird, es keine feste Meinung über Erlaubnis gibt oder anderes. Was immer der Mudschtahid[4] für Allahs Befehl hält, ist richtig, weil die Ermittlung der Sicht Allahs vom Rechtsgutachten des Mudschtahids abhängt. Wenn es nicht so ist, dann gibt es überhaupt kein Rechtsgutachten. Dieser Ansicht zufolge wäre jeder Mudschtahid in seiner Meinung im Recht.“[5]

In diesem Fall würde der Mudschtahid als frei von Fehlern angesehen werden, falls ein Fehler nur dann passieren kann, wenn man einen Schritt gegen die Realität unternimmt, aber da, wo es kein wirkliches Rechts­gut­ach­ten gibt, hätte ein Fehler keinen Sinn. Abgesehen davon, kann der Mudschtahid nur dann als fehlerfrei gesehen werden, wenn man der Ansicht ist, dass Allah, Der all diese Meinungen kennt, die angenommen werden können, so viele verbindliche Regeln angeordnet hat, dass jede Meinung mit so einer Regel konform ist, oder dass Allah sichergestellt hat, dass all die Meinungen, welche die Mudschtahids geäußert haben, sich nicht jenseits dessen bewegen dürfen, was Er angeordnet hat, oder dass durch Zufall die Meinung eines jeden von ihnen nach all dem mit irgendeiner festgelegten Regel konform ist. 

Doch folgt die Glaubensrichtung der Imamiyya[6] einer anderen Theorie, nämlich dass Allah nicht jedem das Recht zur Gesetzgebung gegeben hat oder irgendeine Angelegenheit der Meinung eines Mudschtahids untergeordnet hat, noch Er im Falle von Meinungsverschiedenheiten zahlreiche verbindliche Regeln erlassen hat. Natürlich genügt es für den einzelnen Mudschtahid und seine Anhänger, dass sie nach Forschung und Überprüfung derjenigen Meinung folgen, zu der er nach Forschung und Überprüfung gekommen ist, wenn er in den Texten keine andere verbindliche Meinung findet. Diese Meinung ist die offensichtliche Regel, die ein Ersatz ist für die eigentliche, weil er sein Bestes gegeben hat, in den tiefen Ozean einzutauchen und dessen Grund zu erkunden, aber er bedauerlicherweise anstelle von Perlen nur die Meeresmuscheln bekommen konnte. Er sagt nicht, dass die Beobachter es als Perle sehen oder es als eine solche verkaufen sollen. Es ist eine andere Sache, dass Allah, Der die Anstrengungen sieht, das richtige Urteil zu finden, sie zumindest so belohnt, dass die Anstrengung nicht verloren geht, noch des Mudschtahids Anstrengung entmutigt wird.

Wenn die Theorie der grundsätzlichen Korrektheit angenommen werden würde, dann müsste jedes gesetzliche Rechtsgutachten und jede Meinung als korrekt akzeptiert werden, wie Maybudhi in „Fawatih“ schrieb: „In dieser Hinsicht ist die Ansicht, die al-Asch´ari vertrat, richtig. Daraus folgt, dass unterschiedliche Meinungen alle richtig sein müssen. Hütet euch vor einem schlechten Gedanken gegen Rechtsgelehrte und hütet eure Zungen, sie zu beschimpfen.“[7]

Wenn gegensätzliche Theorien und auseinander gehende Ansichten als richtig akzeptiert werden, dann ist es seltsam, warum manche derart denkende Muslime die Meinungen anderer dennoch ablehnen. Wenn die Theorie der Korrektheit richtig wäre, dann müsste man die Handlungen von Muawiya und Aischa[8] als korrekt werten. Aber wenn ihre Handlungen für falsch eingestuft werden können, dann sollten wir zustimmen, dass die selbstständige Rechtsfindung, also der Idschtihad, auch falsch sein kann, und dass die Theorie der grundsätzlichen Korrektheit falsch ist. Die Legende der grundsätzlichen Korrektheit wurde vorgetragen, um die Fehler zu verdecken und ihnen das Gewand von Regeln Allahs zu verleihen, um unangemessene Ziele zu erreichen. Zudem sollten Muslime davon abgehalten werden, gegen irgendwelche Missetaten zu protestieren.

In dieser Predigt bezog sich der Befehlshaber der Gläubigen (a.) auf jene, die vom Weg Allahs abweichen und gegenüber dem Licht ihre Augen verschließen, in der Dunkelheit der Fantasie herumirren, den Glauben ihren Ansichten und Meinungen opfern, neue Urteile fällen, Gesetze aufgrund ihrer eigenen Vorstellung erlassen und widersprüchliche Ergebnisse produzieren. Auf der Basis der Theorie der grundsätzlichen Korrektheit sehen sie all diese einander widersprechenden und gegensätzlichen Gesetze als von Allah erlassen an, so als ob jedes ihrer Gesetze die göttliche Offenbarung repräsentiere, so dass kein Gesetz von ihnen falsch sein kann, noch dass sie über irgendeine Angelegenheit ins Straucheln geraten könnten. Daher widerlegt der Befehlshaber der Gläubigen (a.) diese Meinung sinngemäß folgendermaßen: Wenn Allah Einer ist, das Buch, also der Heilige Qur´an eins ist und wenn der Prophet (s.) einer ist, dann kann die Religion, die befolgt wird, ebenfalls nur eine sein. Und wenn die Religion eine ist, wie kann es da widersprüchliche Gesetze geben über irgendetwas, weil es nur Unterschiede in einem Gesetz geben kann, wenn demjenigen, der das Gesetz erlassen hat, es entfallen oder er vergesslich ist, ihn Unvernunft überwältigt, oder er sich vorsätzlich in Labyrinthe verwickelt, während Allah und Sein Prophet (s.) über solchen Dingen stehen. Diese Widersprüchlichkeiten können ihnen nicht zugeschrieben werden. Sie sind vielmehr das Ergebnis der Gedanken und Meinungen der Leute, die sich der Verdrehung der Richtlinien der Religion durch ihre eigenen Vorstellungen und entsprechenden Taten gewidmet haben.

Allah muss es entweder verboten oder geboten haben, diese Widersprüche zu schaffen. Wenn Er dies zu ihren Gunsten angeordnet hat, wo ist dieses Gesetz und an welcher Stelle steht es? Was hingegen das Verbot dessen anbelangt, so sagt der Qur´an: Sprich: Hat Allah euch (das) gestattet, oder erfindet ihr Lügen wider Allah?[9]

Das heißt, alles, was nicht im Einklang mit den göttlichen Gesetzen steht, ist eine unzulässige Hinzufügung [bid´a], und unzulässige Hinzufügung in der Religion selbst sind verboten und untersagt. Für Erfinder von Religion wird es in der jenseitigen Welt weder Erfolg noch Wohlstand und Gutes geben, da Allah sagt: „Und sagt nicht aufgrund des Falschen in euren Zungen: ‚Das ist erlaubt, und das ist nicht erlaubt’, so dass ihr eine Lüge erdichtet gegen Allah. Diejenigen, die eine Lüge gegen Allah erdichten, haben keinen Erfolg.“[10]

Wenn Allah die vollkommene Religion unvollständig gelassen hätte, dann wäre jener Glaube ganz klar Polytheismus. Wenn Er die Religion hingegen in vollständiger Form herabgesandt hat, sie aber dennoch unvollständig ist, dann müsste der Prophet (s.) bei ihrer Übermittlung einen Fehler gemacht haben, so dass für andere ein Spielraum bestand, um Fantasie und Meinung zur Anwendung zu bringen. Dies – Allah bewahre! – würde eine Schwäche des Propheten (s.) bedeuten und eine verheerende Undeutlichkeit in Allahs Auswahl, so dass es wiederum nicht die wahrhaftige Religion sein könnte.

Allah hat im Heiligen Qur´an gesagt, dass Er nichts im Buche ausgelassen hat und jede einzelne Angelegenheit klar gemacht hat. Wenn nun ein Gesetz auf den Weg gebracht wird, das im Konflikt mit dem Heiligen Qur´an steht, wäre es außerhalb des Religionsgesetzes, und seine Basis wäre nicht auf Wissen und Wahrnehmung oder auf Qur´an und Verfahrensweise [sunna] des Propheten (s.) aufgebaut, sondern es wäre die persönliche Meinung, die nicht als mit Religion und Glauben in Einklang stehend betrachtet werden kann.

Der Heilige Qur´an ist Basis und Quelle der Religion sowie der Ursprung der religiösen Gesetzmäßigkeiten. Wenn die Gesetze und Gesetzmäßigkeiten sich widersprechen würden, dann müssten im Heiligen Qur´an und in der Sunna ebenfalls Widersprüche vorhanden sein, und wenn es darin Widersprüche gäbe, dann könnten sie nicht als Wort Gottes betrachtet werden. Wenn es ein göttliches Gesetz ist, dann können die Gesetze sich nicht widersprechen, so dass man alle unterschiedlichen und gegensätzlichen Meinungen als korrekt sowie imaginäre Rechtsgutachten als qur´anischen Befehl betrachten könnte. Das ist der Schwerpunkt der Predigt Imam Alis (a.).

[1] Heiliger Qur´an 6:38

[2] Heiliger Qur´an 4:82

[3] Gründer eine einflussreichen philosophischen Denkrichtung in der islamischen Geschichte, die sich gegen die Meinung Imam Alis (a.) stellte. Der Sinn jener Ansicht bestand u.a. darin, Muawiyas Entscheidung, gegen Imam Ali (a.) zu Felde zu ziehen, zu rechtfertigen.

[4] Der Gelehrte, der selbständige Rechtsfindung praktiziert

[5] Al-Milal wa-Nihal, S. 98

[6] Zwölfer-Schiiten

[7] Hierauf gründet die Ansicht, dass unterschiedliche Rechtschule alle gleichzeitig richtig sein können, was von Imam Ali (a.) abgelehnt wird, wie es hier erläutert wird.

[8] Gemeint sind die Kriege, die Muawiya und Aischa gegen Imam Ali (a.) geführt haben, bei denen mehrere zehntausend Muslime umgekommen sind.

[9] Heiliger Qur´an 10:59

[10] Heiliger Qur´an 16:116

 

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