Nahdsch-ul-Balagha - Pfad
der Eloquenz
In
dieser (Predigt) tadelte er die Meinungsverschiedenheit der
Gelehrten in (ihren) Rechtsgutachten, und er tadelt die Leute,
die nach eigener Meinung urteilen [ahl al-rayy] und überträgt
die Urteilskompetenz in Religionsangelegenheiten dem Qur´an.
Wenn eine Angelegenheit vor ihn gebracht
wird, worüber geurteilt werden soll, so urteilt er darüber
nach seiner Meinung. Wenn dann genau die gleiche Angelegenheit
vor einen anderen gebracht wird, so urteilt er gegenteilig zu
dem, was (vorher) gesagt wurde. Dann gehen die Richter
gemeinsam damit zum Imam, der sie zu Richtern ernannt hat, und
der bestätigt ihre Meinungen allesamt – und ihr Gott ist Einer
(und derselbe)! Und ihr Prophet ist einer (und derselbe)! Und
ihr Buch ist eins (und dasselbe)! Hat Allah, Der Erhabene,
ihnen befohlen, dass sie verschiedener Meinung sein sollen,
und sie haben ihm gehorcht? Oder hat er das ihnen verboten,
jedoch sie waren ihm ungehorsam?!
Oder hat Allah, Der Erhabene, eine
unzulängliche Religion herabgesandt und sie um ihre Hilfe
ersucht, um sie zu vervollständigen? Oder waren sie Seine
Teilhaber, so dass es ihnen zusteht, es zu sagen, und es Seine
Pflicht ist, Sein Einverständnis zu geben? Oder hat Allah, Der
Erhabene, eine vollkommene Religion herabgesandt, aber der
Gesandte (s.) war unzulänglich in deren Verkündung und
Ausführung? Und Allah, Der Erhabene, sagt: „Wir haben
nichts vom Buche vernachlässigt“,
darin wird jegliches Ding dargelegt, und Er erinnerte daran,
dass (Teile des) Buches einander bestätigen, und dass es keine
Kontroverse darin gibt, und Er sagte: „Wäre er von einem
anderen als von Allah, sie hätten darin viel Widerspruch
gefunden.“
Wahrlich, das Offenkundige des Qur´ans
ist elegant, und sein Innerstes ist tief. Seine Wunder werden
nicht vergehen, sein Erstaunliches wird nicht verlöschen, und
die Finsternisse können nur mit ihm erhellt werden.
Es ist ein
vieldiskutiertes Problem, dass, falls es kein klares Argument
über eine Angelegenheit im Religionsgesetz gibt, es in
Wirklichkeit dennoch ein Gesetz darüber gibt oder nicht. Die
Meinung, die Abu´l Hassan al-Asch´ari
und sein Lehrmeister Abu Ali al-Dschubba´i sich zueigen
machten, ist, dass Allah in so einem Fall kein besonderes
Verfahren angeordnet hat, nachdem gehandelt werden muss,
sondern dass Er die Aufgabe zugeteilt hat, es herauszufinden
und den Juristen ein Rechtsgutachten zu geben, so dass, was
immer sie für verboten halten, als verboten betrachtet werden
sollte, und was immer sie für erlaubt hielten, als erlaubt
betrachtet werden sollte. Und wenn einer eine Ansicht hat und
der andere eine andere, dann wird es so viele Rechtsgutachten
geben, wie es Meinungen gibt, und jede davon würde den
letztendlichen Befehl repräsentieren; z.B., wenn ein Gelehrter
sagt, dass Gerstenmalz verboten ist und ein anderer sagt, dass
es erlaubt ist. Das heißt, für den, der es für verboten hält,
ist dessen Konsum verboten, wohingegen es für den anderen
erlaubt sein würde.
Über diese
Theorie schreibt Abdulkarim al-Schahristani: „Eine Gruppe
von Theoretikern meint, dass in Angelegenheiten, in denen die
selbständige Rechtsfindung [Idschtihad] nach Qur´an und Sunna
angewandt wird, es keine feste Meinung über Erlaubnis gibt
oder anderes. Was immer der Mudschtahid
für Allahs Befehl hält, ist richtig, weil die Ermittlung der
Sicht Allahs vom Rechtsgutachten des Mudschtahids abhängt.
Wenn es nicht so ist, dann gibt es überhaupt kein
Rechtsgutachten. Dieser Ansicht zufolge wäre jeder Mudschtahid
in seiner Meinung im Recht.“
In diesem
Fall würde der Mudschtahid als frei von Fehlern angesehen
werden, falls ein Fehler nur dann passieren kann, wenn man
einen Schritt gegen die Realität unternimmt, aber da, wo es
kein wirkliches Rechtsgutachten gibt, hätte ein Fehler
keinen Sinn. Abgesehen davon, kann der Mudschtahid nur dann
als fehlerfrei gesehen werden, wenn man der Ansicht ist, dass
Allah, Der all diese Meinungen kennt, die angenommen werden
können, so viele verbindliche Regeln angeordnet hat, dass jede
Meinung mit so einer Regel konform ist, oder dass Allah
sichergestellt hat, dass all die Meinungen, welche die
Mudschtahids geäußert haben, sich nicht jenseits dessen
bewegen dürfen, was Er angeordnet hat, oder dass durch Zufall
die Meinung eines jeden von ihnen nach all dem mit irgendeiner
festgelegten Regel konform ist.
Doch folgt
die Glaubensrichtung der Imamiyya
einer anderen Theorie, nämlich dass Allah nicht jedem das
Recht zur Gesetzgebung gegeben hat oder irgendeine
Angelegenheit der Meinung eines Mudschtahids untergeordnet
hat, noch Er im Falle von Meinungsverschiedenheiten zahlreiche
verbindliche Regeln erlassen hat. Natürlich genügt es für den
einzelnen Mudschtahid und seine Anhänger, dass sie nach
Forschung und Überprüfung derjenigen Meinung folgen, zu der er
nach Forschung und Überprüfung gekommen ist, wenn er in den
Texten keine andere verbindliche Meinung findet. Diese Meinung
ist die offensichtliche Regel, die ein Ersatz ist für die
eigentliche, weil er sein Bestes gegeben hat, in den tiefen
Ozean einzutauchen und dessen Grund zu erkunden, aber er
bedauerlicherweise anstelle von Perlen nur die Meeresmuscheln
bekommen konnte. Er sagt nicht, dass die Beobachter es als
Perle sehen oder es als eine solche verkaufen sollen. Es ist
eine andere Sache, dass Allah, Der die Anstrengungen sieht,
das richtige Urteil zu finden, sie zumindest so belohnt, dass
die Anstrengung nicht verloren geht, noch des Mudschtahids
Anstrengung entmutigt wird.
Wenn die
Theorie der grundsätzlichen Korrektheit angenommen werden
würde, dann müsste jedes gesetzliche Rechtsgutachten und jede
Meinung als korrekt akzeptiert werden, wie Maybudhi in „Fawatih“
schrieb: „In dieser Hinsicht ist die Ansicht, die
al-Asch´ari vertrat, richtig. Daraus folgt, dass
unterschiedliche Meinungen alle richtig sein müssen. Hütet
euch vor einem schlechten Gedanken gegen Rechtsgelehrte und
hütet eure Zungen, sie zu beschimpfen.“
Wenn
gegensätzliche Theorien und auseinander gehende Ansichten als
richtig akzeptiert werden, dann ist es seltsam, warum manche
derart denkende Muslime die Meinungen anderer dennoch
ablehnen. Wenn die Theorie der Korrektheit richtig wäre, dann
müsste man die Handlungen von Muawiya und Aischa
als korrekt werten. Aber wenn ihre Handlungen für falsch
eingestuft werden können, dann sollten wir zustimmen, dass die
selbstständige Rechtsfindung, also der Idschtihad, auch falsch
sein kann, und dass die Theorie der grundsätzlichen
Korrektheit falsch ist. Die Legende der grundsätzlichen
Korrektheit wurde vorgetragen, um die Fehler zu verdecken und
ihnen das Gewand von Regeln Allahs zu verleihen, um
unangemessene Ziele zu erreichen. Zudem sollten Muslime davon
abgehalten werden, gegen irgendwelche Missetaten zu
protestieren.
In dieser
Predigt bezog sich der Befehlshaber der Gläubigen (a.) auf
jene, die vom Weg Allahs abweichen und gegenüber dem Licht
ihre Augen verschließen, in der Dunkelheit der Fantasie
herumirren, den Glauben ihren Ansichten und Meinungen opfern,
neue Urteile fällen, Gesetze aufgrund ihrer eigenen
Vorstellung erlassen und widersprüchliche Ergebnisse
produzieren. Auf der Basis der Theorie der grundsätzlichen
Korrektheit sehen sie all diese einander widersprechenden und
gegensätzlichen Gesetze als von Allah erlassen an, so als ob
jedes ihrer Gesetze die göttliche Offenbarung repräsentiere,
so dass kein Gesetz von ihnen falsch sein kann, noch dass sie
über irgendeine Angelegenheit ins Straucheln geraten könnten.
Daher widerlegt der Befehlshaber der Gläubigen (a.) diese
Meinung sinngemäß folgendermaßen: Wenn Allah Einer ist, das
Buch, also der Heilige Qur´an eins ist und wenn der Prophet
(s.) einer ist, dann kann die Religion, die befolgt wird,
ebenfalls nur eine sein. Und wenn die Religion eine ist, wie
kann es da widersprüchliche Gesetze geben über irgendetwas,
weil es nur Unterschiede in einem Gesetz geben kann, wenn
demjenigen, der das Gesetz erlassen hat, es entfallen oder er
vergesslich ist, ihn Unvernunft überwältigt, oder er sich
vorsätzlich in Labyrinthe verwickelt, während Allah und Sein
Prophet (s.) über solchen Dingen stehen. Diese
Widersprüchlichkeiten können ihnen nicht zugeschrieben werden.
Sie sind vielmehr das Ergebnis der Gedanken und Meinungen der
Leute, die sich der Verdrehung der Richtlinien der Religion
durch ihre eigenen Vorstellungen und entsprechenden Taten
gewidmet haben.
Allah muss es
entweder verboten oder geboten haben, diese Widersprüche zu
schaffen. Wenn Er dies zu ihren Gunsten angeordnet hat, wo ist
dieses Gesetz und an welcher Stelle steht es? Was hingegen das
Verbot dessen anbelangt, so sagt der Qur´an: Sprich: Hat
Allah euch (das) gestattet, oder erfindet ihr Lügen wider
Allah?
Das heißt,
alles, was nicht im Einklang mit den göttlichen Gesetzen
steht, ist eine unzulässige Hinzufügung [bid´a], und
unzulässige Hinzufügung in der Religion selbst sind verboten
und untersagt. Für Erfinder von Religion wird es in der
jenseitigen Welt weder Erfolg noch Wohlstand und Gutes geben,
da Allah sagt: „Und sagt nicht aufgrund des Falschen in
euren Zungen: ‚Das ist erlaubt, und das ist nicht erlaubt’, so
dass ihr eine Lüge erdichtet gegen Allah. Diejenigen, die eine
Lüge gegen Allah erdichten, haben keinen Erfolg.“
Wenn Allah
die vollkommene Religion unvollständig gelassen hätte, dann
wäre jener Glaube ganz klar Polytheismus. Wenn Er die Religion
hingegen in vollständiger Form herabgesandt hat, sie aber
dennoch unvollständig ist, dann müsste der Prophet (s.) bei
ihrer Übermittlung einen Fehler gemacht haben, so dass für
andere ein Spielraum bestand, um Fantasie und Meinung zur
Anwendung zu bringen. Dies – Allah bewahre! – würde eine
Schwäche des Propheten (s.) bedeuten und eine verheerende
Undeutlichkeit in Allahs Auswahl, so dass es wiederum nicht
die wahrhaftige Religion sein könnte.
Allah hat im
Heiligen Qur´an gesagt, dass Er nichts im Buche ausgelassen
hat und jede einzelne Angelegenheit klar gemacht hat. Wenn nun
ein Gesetz auf den Weg gebracht wird, das im Konflikt mit dem
Heiligen Qur´an steht, wäre es außerhalb des
Religionsgesetzes, und seine Basis wäre nicht auf Wissen und
Wahrnehmung oder auf Qur´an und Verfahrensweise [sunna] des
Propheten (s.) aufgebaut, sondern es wäre die persönliche
Meinung, die nicht als mit Religion und Glauben in Einklang
stehend betrachtet werden kann.
Der
Heilige Qur´an ist Basis und Quelle der Religion sowie der
Ursprung der religiösen Gesetzmäßigkeiten. Wenn die Gesetze
und Gesetzmäßigkeiten sich widersprechen würden, dann müssten
im Heiligen Qur´an und in der Sunna ebenfalls Widersprüche
vorhanden sein, und wenn es darin Widersprüche gäbe, dann
könnten sie nicht als Wort Gottes betrachtet werden. Wenn es
ein göttliches Gesetz ist, dann können die Gesetze sich nicht
widersprechen, so dass man alle unterschiedlichen und
gegensätzlichen Meinungen als korrekt sowie imaginäre
Rechtsgutachten als qur´anischen Befehl betrachten könnte. Das
ist der Schwerpunkt der Predigt Imam Alis (a.).