Quran im Islam
Der Quran im Islam

Mehr zum Autor siehe: Allama Sayyid Muhammad Husain Tabatabai

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Der Quran im Islam

Die Wissenschaft der Exegese und die Exegetengenerationen

Nach dem Ableben des Propheten (s.) widmete sich eine Anzahl der Prophetengefährten wie Abi ibn Kab, Abdullah ibn Masud, Dschabir ibn Abdullah al-Ansari, Abu Said Hudhri, Abdullah ibn Zubair, Abdullah ibn Umar, Anas, Abu Huraira, Abu Musa[1] der Quran-Exegese, deren bekanntester Abdullah ibn Abbas[2] war. Ihre Methode bestand darin, dass sie ihre von dem Propheten (s.) über den Sinn der Quranischen Verse erworbenen Kenntnisse als lückenlose Überlieferungen weitergaben.[3]

Es existieren für den ganzen Quranischen Text insgesamt über 240 solche Überlieferungen, deren Überlieferungskette schwach und teilweise nicht anerkannt ist. Bisweilen gaben sie Kommentare zu den Versen mit Meinungen, die sie nicht ausdrücklich auf den Propheten (s.) zurückführten.

Die späteren sunnitischen Exegeten rechnen auch diese Überlieferungen zu der Prophetenüberlieferung in der Quran-Exegese. Denn die Gefährten haben sich das Quran-Wissen bei dem Propheten angeeignet, und es sei unwahrscheinlich, dass sie von sich aus etwas gesagt haben sollen.

Es gibt allerdings keinen zwingenden Grund für diese Annahme. Abgesehen davon, dass eine große Anzahl dieser Überlieferungen lediglich die Veranlassungen der Offenbarungen und die historischen Ereignisse betreffen, gibt es unter den Überlieferungen der Gefährten eine ganze Reihe von unverbürgten Aussagen der zum Islam konvertierten jüdischen Gelehrten wie Kab al-Ahbar[4].

Darüber hinaus führte Ibn Abbas zur Bedeutungserklärung der Verse öfters Beispiele aus der Dichtung an. Von ihm wird beispielsweise überliefert, dass er 200 Fragen von Nafi ibn Azraq[5] mit Zitaten aus der arabischen Dichtung beantwortet habe. Suyuti[6] erwähnt davon 190 Fragen in seinem Werk “Itqan“[7]. Daher können die Überlieferungen der Exegeten unter den Prophetengefährten nicht als Prophetentradition betrachtet und ihre eigenen Meinungsäußerungen ausgeschlossen werden. Die Gefährten gehören eher der ersten Exegetengeneration an.

Zur zweiten Exegetengeneration gehören die Nachfolger, die die Schüler der Prophetengefährten waren, wie Mudschahid, Said ibn Dschabir, Ikrama und Dahhak[8]. Auch Hassan Basri, Ata. ibn Abi Rabah, Ata ibn Abi Muslim, Abu al-Aliya, Muhammad ibn Kab Qurazi, Qatada, Atiaya, Zaid ibn Aslam und Tawus Yamani gehören eben falls zu dieser Generation.

Zur dritten Generation gehören diejenigen, welche die Schüler der zweiten Generation waren, wie Rabi ibn Anas, Abdurrahman ibn Zaid ibn Aslam, Abu Salih Kalbi und andere.

Die Methode der Nachfolger bestand darin, dass sie die Bedeutung der Quran-Verse entweder in Form von Überlieferungen auf die Aussagen des Propheten oder seiner Gefährten zurückführten oder sie nach eigener Meinung angaben. Die späteren Exegeten haben auch diese Meinungen wie die Prophetenüberlieferung behandelt und sie “mauqufa“[9] genannt. Diese beiden Generationen heißen in der Literatur „die alten Exegeten“.

Die vierte Generation ist gleichzeitig die erste Generation der Verfasser von Kommentaren. Zu erwähnen sind aus dieser Generation u.a. Sufyan ibn Uyaina, Waki ibn Dscharrah, Schuba ibn Hadschdschadsch, Abd ibn Hamid und andere. Auch Ibn Dscharir Tabari[10], Verfasser des gleichnamigen Kommentars, gehört zu dieser Generation.

Die Exegeten dieser Generation verfuhren auf folgende Weise: Sie nahmen die Aussagen der Prophetengefährten und ihrer Nachfolger ohne eigene Meinungsäußerung in ihren Kommentaren auf, wenn die entsprechenden Überlieferungsketten vollständig waren. Ibn Dscharir Tabari bildete da insofern eine Ausnahme, als er in seinen Kommentaren bisweilen unter verschiedenen Aussagen manche bevorzugend erwähnte. Mit dieser Gruppe beginnt die Generation der “späteren Exegeten“.

Die fünfte Generation bildeten jene Exegeten, welche die Überlieferungen ohne Erwähnung der Überlieferer in ihren Werken aufnahmen und sich lediglich auf die Wiedergabe der Aussprüche beschränkten. Einige Gelehrte sind der Ansicht, dass die Unordnung in der Quran-Exegese in dieser Zeit begann. Viele Aussprüche wurden ohne Rücksicht auf die Richtigkeit und den Wert der Überlieferungen ungeprüft den Prophetengefährten und ihren Nachfolgern zugeschrieben. Durch diese Ungereimtheiten entstanden viele unechte Aussagen und erschütterten die Autorität der Aussagen insgesamt.

Wer jedoch die lückenlosen Überlieferungen in den Kommentaren näher betrachtet, wird gewiss feststellen, dass sich auch hier viel Erdachtes eingeschlichen hat. Widerstreitende und widersprüchliche Aussagen sind ein und demselben Prophetengefährten oder -nachfolger zugeschrieben worden. Unter diesen Überlieferungen finden sich zahlreiche Geschichten und Anekdoten, die sicherlich erfunden worden sind. Die Veranlassungen der Offenbarungen, die aufhebenden und aufgehobenen Verse widersprechen mehr als einmal der Versordnung, als dass man sie hätte übersehen können.

Daher hat Imam Ahmad ibn Hanbal[11], der vor dieser Generation lebte, einmal gesagt: „Für drei Dinge gibt es keine Quellen: Kriegszüge des Propheten, Gemetzel und Überlieferungen in den Kommentaren.“ Und Imam Schafii[12] soll einmal gesagt haben, dass nur hundert Überlieferungen von Ibn Abbas verbürgt seien.

Zur sechsten Generation gehören die Exegeten, die nach der Entstehung verschiedener Wissenschaften und ihrer Weiterentwicklung im Islam heranwuchsen. Jeder Fachgelehrte versuchte, den Quran mit Hilfe seines Fachwissens zu interpretieren: Grammatiker wie Zadschdschadsch, Wahidi und Abu Haiyan mit Hilfe der Grammatik, Rhetoriker wie Zamahschari mit Hilfe der rhetorischen Mittel in Kaschschaf, Theologen wie Fahr Razi unter Zuhilfenahme theologischer Argumentation in Tafsir, Mystiker wie Abu Arabi und Abdurrazzaq Kasi auf dem Wege der Mystik, Traditionswissenschaftler wie Talabi mit Hilfe der Überlieferungen, Rechtsgelehrte wie Qurtabi durch die Rechtswissenschaft und andere mit Hilfe verschiedener Wissenschaften. Aus den Kommentarwerken der letzteren seien erwähnt Tafsir al-Bayan, Ruh al-Maani und der Kommentar von Nischaburi.

Das Verdienst dieser Generationen bestand darin, dass sie die Quran-Exegese aus der Erstarrung, die sie während der fünf Generationen erfahren hatte, heraus und in ein Stadium theoretischer Diskussion hineinführte. Doch ein unparteiischer Betrachter wird feststellen, dass in den meisten exegetischen Argumentationen dieser Zeit die wissenschaftlichen Theorien dem Quran eher aufoktroyiert sind, statt den Sinn der Quranischen Verse aus dem Kontext zu erschließen.

[1] Allesamt Personen, die zumindest kurzzeitig den Propheten Muhammad (s.) noch miterlebt haben. Manche von ihnen gelten als zuverlässig und vertrauenswürdig, andere weniger. Es handelt sich zumeist um später von Sunniten favorisierte Überlieferer, da Schiiten sich zu der Zeit an den noch unter ihnen weilenden reinen Imamen orientiert haben.

[2] Ubaidullah ibn Abbas (619 - 687 n.Chr.), bekannt als "Ibn Abbas", war ein Cousin des Propheten Muhammad (s.). In vielen Quellen wird er auch "Abdullah ibn Abbas" genannt. Ibn Abbas überlieferte viele Einzelheiten aus dem Leben des Propheten Muhammad (s.).

[3] Vgl. dazu “ltqan“, Suyuti, Kairo 1950 Schlussteil. Der Autor geht an dieser Stelle nicht darauf ein, dass einige der genannten Exegeten weniger und andere mehr glaubhaft waren bzw. sind. Hier geht es nur um die prinzipielle Entwicklung.

[4] Kab al-Ahbar war ein bekannter Geistlicher des Judentums aus dem Jemen und kam nach Medina in der Zeit des Kalifen Umar ibn Chattab. Dort erklärte er, den Islam angenommen zu haben und blieb in Medina bis zu seinem Ableben während der Zeit des Kalifen Uthman ibn Affan. Er erzählte viele Geschichten mit dem Hinweis, dass sie aus der Thora stammen würden. Überlieferer [rawi] wie Abu Huraira, Abdullah ibn Umar, Abdullah ibn Amr ibn al-Aas und Muawiya ibn Abu Sufyan erzählten die Geschichten weiter, teils mit unzulässigen Vermischungen mit den Worten des Propheten Muhammad (s.). Durch seine Redegewandtheit gewann Kab das Vertrauen u.a. des Kalifen Umar und wurde zu einem seiner engsten Berater. Zu einer Hinterfragung Kabs kam es allerdings nicht, da viele Gefährten in ihm große Weisheit vermuteten. Der einzige große Gefährte, der von Anfang an eine sehr negative Meinung über Kab hatte, war Imam Ali (a.). Kab kannte die Vorbehalte Imam Alis (a.) und hielt sich von ihm fern. Eine bekannt Aussage Imam Alis (a.) über Kab ist: „Er ist gewiss ein großer Lügner“, wie es in einigen schiitischen Quellen verzeichnet ist. Aber auch in den sunnitischen Quellen gibt es einige Unstimmigkeiten über Kab. So beschreibt Tabari, wie Ibn Abbas ihn in der Öffentlichkeit gleich mehrfach als Lügner bezeichnet hat, nachdem Kab eine Geschichte über Sonne und Mond erzählt hatte, die angeblich in der Hölle landen werden. Kab wird auch zugeschrieben, dass er Umar davon abhielt, all zu oft Imam Alis (a.) Rat einzuholen. Fachr al-Radhi notiert in seiner Auslegung zum Heiligen Quran einen Dialog zwischen Umar und Kab über die Nachfolgeregelung zum Kalifat, die Umar andachte. Auf die Frage, ob er Imam Ali (a.) berücksichtigen sollte, antwortete Kab, das das nicht weise sei, weil Imam Ali (a.) "zu religiös" sei. Kab empfahl, dass die Umayyaden geeignete Nachfolger wären; ein Vorschlag, an den sich Umar faktisch hielt. Muawiya beauftragte ihn später möglichst viele Überlieferungen zu seinen Gunsten zu fabrizieren.

[5] Anführer einer später abtrünnigen Gruppe, die Imam Ali (a.) bekämpfte.

[6] Abdurrahman ibn Kamaluddin Abu Bakr ibn Muhammad ibn Sabiquddin Dschalaluddin al-Misri al-Schafii al-Aschari, bekannt als Suyuti (1445-1505), war ein Gelehrter der Überlieferung und islamische Rechtswissenschaft. Er ist Autor von zahllosen Werken über viele islamische Wissenschaftsrichtungen. Aufgrund seiner vielen Bücher ist er auch bekannt als Ibn al-Kutub (Sohn des Buches).

[7] ltqan, Seite 120-133

[8] Naturgemäß gibt es in der zweiten Generation der Überlieferer und Exegeten ebenfalls zuverlässige und weniger zuverlässige Personen.

[9] Überlieferungen, in denen der Name der Überlieferer nicht angegeben wird.

[10] Abu Dschafar Muhammad Ibn Dscharir ibn Yazid al-Tabari (839-922), der als Tabari (der aus Tabaristan) bekannt ist, war ein bedeutender persisch-islamischer Historiker und Gelehrter für Sunniten. Tabaris berühmteste Werke sind seine Geschichtswerke [tarich] und seine Auslegung [tafsir] des Heiligen Quran.

[11] Ahmad ibn Muhammad ibn Hanbal (780-855) ist bekannt als Begründer der nach ihm benannten Rechtsschule der Sunniten.

[12] Auf Muhammad ibn Idris Schafii (767-820) geht die sunnitische Rechtsschule der Schafiiten zurück.

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