Unterwegs
Dienstag, 17. April.
In der Dämmerung liegt unser Nomadengepäck ausgebreitet auf
der Erde, durchnäßt von dem Sprühregen, trostlos anzuschauen.
Der Wind fegt unter den sich hochauftürmenden drohenden Wolken
dahin. Die weiten Sandflächen, in die wir uns jetzt auf gut
Glück hineinstürzen sollen, heben sich hell vom Horizont ab;
die Wüste ist weniger dunkel als der Himmel.
Eine große Segelbark, die wir in Bender-Bouchir geheuert
haben, wirft uns hier an der Schwelle der Einsamkeiten aus,
auf das glühende Ufer des Persischen Golfes, wo Menschen aus
unserem Klima die fiebergeschwängerte Luft kaum atmen können.
Und hier ist der Ausgangspunkt, wo sich gewöhnlich die
Karawanen bilden, die nach Chiraz und Mittel-Persien
aufsteigen sollen.
Wir waren vor ungefähr drei Wochen auf einem Schiff von
Indien fortgefahren, das uns jetzt langsam an der Küste
entlang vorwärts trägt, indem es sich auf den schweren und
heißen Gewässern dahinschleppt. Und seit mehreren Tagen sehen
wir am nördlichen Horizont eine Art endloser Mauer, die, bald
blau, bald rosa, uns zu folgen scheint, und die auch an diesem
Abend sich vor uns aufgetürmt hat. Der Rand Persiens, das Ziel
unserer Reise, das, zwei- oder dreitausend Meter über dem
Meeresspiegel, in den ungeheuren Höheflächen Asiens ruht.
Der erste Empfang auf persischem Boden war für uns kein
freundlicher: Als wir von Bombay ankamen, wo die Pest wütete,
mußten mein französischer Diener und ich dort fünf Tage in
Quarantäne liegen, allein auf einer sumpfigen kleinen Insel;
eine Barke brachte uns jeden Abend die nötigen Lebensmittel,
die uns vor dem Hungertode schützen sollten. In einer
Backofenhitze, inmitten der Qualen des heißen Sandes, den uns
das benachbarte Arabien sandte, inmitten der rätselhaften
Winde, mußten wir lange dort leiden. Tagsüber von der Sonne zu
Boden gedrückt, mit Bremsen und giftigen Fliegen bedeckt,
nachts die Beute ungezählten Ungeziefers, das das Gras
verpestete.
Als wir endlich in Bender-Bouchir, der Stadt der Trauer und
des Todes, mit ihren verfallenen Mauern, mit ihrem
unheilvollen Himmel, einziehen durften, trafen wir in aller
Eile unsere Vorbereitungen, kauften Lagergegenstände, mieteten
Pferde, Maultiere, Maultiertreiber, die, um wieder mit uns
zusammenzutreffen, heute morgen aufbrechen mußten; sie hatten
eine Bucht zu umschreiten, wir aber schnitten zu Wasser eine
ganze Ecke ab, um auf diese Weise einen Marsch in der
glühenden Sonnenhitze zu vermeiden.
So haben wir uns also an der Schwelle der Wüste
niedergelassen, gegenüber einem ganz verfallenen Dorf, wo die
Leute in Lumpen gehüllt auf Mauertrümmern hocken und rauchen
und unserem Treiben zuschauen.
Lange Unterredungen mit unseren halbnackten Schiffern, die
uns auf ihren triefenden Schultern ans Land getragen haben,
denn die Barke mußte wegen der Sandbänke ungefähr hundert
Meter vom Ufer entfernt liegen bleiben. Lange Unterredungen
mit dem Ortsvorsteher, der von dem Gouverneur von Bouchir den
Befehl erhalten hat, mir eine berittene Begleitmannschaft zu
stellen, und schließlich mit einem »Tcharvadar« (dem Anführer
meiner Karawane), dessen Pferde und Maultiere hier sein
sollten, die aber nicht ankommen.
Von allen Seiten der weite Raum, den der Wind bewegt, der
Raum der Wüste oder des Meeres. Und wir befinden uns ohne
Schutz, unser Gepäck liegt zerstreut auf dem Boden. Und der
Tag erlischt langsam über unserer Verwirrung.
Einige Tropfen Regen. Aber in diesem Lande achtet man nicht
darauf; man weiß, daß es nicht regnen wird, daß es nicht
regnen kann. Die Leute, die rauchend auf den Ruinen saßen,
haben soeben ihr Moghreb-Gebet gesprochen, und die Nacht sinkt
herab, Unheil verkündend.
Wir warten auf unsere Tiere, die noch immer nicht kommen.
In der Dunkelheit tönen von Zeit zu Zeit die Glöckchen zu
einem Glockenspiel zusammen, und jedesmal flößen sie uns
Hoffnung ein. Aber nein, es ist irgendeine fremde Karawane,
die vorüberzieht; zu zwanzig oder dreißig, die Maultiere
streifen uns; um sie daran zu verhindern, unser Gepäck und uns
selbst zu zertrampeln, schreien unsere Leute – und alsbald
verschwinden sie, dem fernen Nebel entgegen. (Wir sind hier am
Eingang zu der Straße von Bouchir nach Ispahan, einer jener
großen Straßen Persiens, und dieser kleine, verfallene Hafen
ist ein sehr besuchter Durchgang.)
Endlich kommen sie an, die Unsrigen, auch sie mit
lauttönenden Glöckchen.
Eine Nacht, die immer dichter wird, unter einem niedrigen,
unruhigen Himmel.
Alles liegt auf der Erde durcheinander geworfen. Die Tiere
machen Sprünge, schlagen hinten aus – und die Zeit schreitet
fort, wir sollten uns eigentlich schon längst auf dem Marsche
befinden. Zuweilen hat man im nächtlichen Alpdruck ähnliche
unlösbare Schwierigkeiten zu überwinden gehabt, hat vor diesen
unentwirrbaren Hindernissen, inmitten wachsender Nebel
gestanden. Wirklich, es erscheint unmöglich, wie so viele
verschiedene Dinge, Waffen, Decken, Geschirre, die in aller
Eile in Bouchir gekauft und nicht eingepackt wurden, und die
jetzt hier im Sande verstreut liegen, in einer solchen Nacht
wie der heutigen so schnell auf glöckchenbehangenen Maultieren
verladen werden können, die dann in einer langen Reihe, eins
hinter dem anderen in der schwarzen Wüste untertauchen.
Indessen, man geht an die Arbeit, indem man von Zeit zu
Zeit innehält, um Gebete zu sprechen.
Die Gegenstände in große Karawanensäcke von buntbemalter
Wolle verstauen, dieselben zuschnüren, umwinden, wägen, das
Gewicht jedes Tieres abmessen – das alles geht unter dem
Scheine zweier kleiner, jämmerlich anzuschauender Laternen,
inmitten des unruhvollen Dunkels vor sich. Kein Stern, keine
Öffnung dort oben, durch die der geringste Strahl fällt. Die
Windstöße wirbeln mit klagendem Geheul den Sand auf. Und
während der ganzen Zeit ertönt hinter der Szene das Geläute
der Schellen und Glöckchen; unbekannte Karawanen ziehen
vorüber. Jetzt führt mir der Ortsvorsteher drei Soldaten zu,
die mit meinen Dienern und meinen Maultiertreibern diese Nacht
meine Wache ausmachen sollen. Die beiden kleinen Laternen, die
man auf die Erde gestellt hat, und die die Heuschrecken
anziehen, zeigen mir von unten in unbestimmtem Licht die
beiden Ankömmlinge: hohe schwarze Hüte über feinen Gesichtern,
lange Haare und lange Bärte, weite Kleider mit einem
Einschnitt in der Taille und mit Ärmeln, die wie Flügel
herunterhängen . . .
Endlich gelingt es dem Mond, dem Freund der Nomaden, das
schwarze Chaos zu entwirren. In einem jähen Riß, am Rande des
Horizontes geht er riesenhaft und rot auf und enthüllt im
selben Augenblick die noch nahen Gewässer, auf denen sein
Widerschein sich zu einem blutigen Tuch verlängert (eine Ecke
des Persischen Golfes), enthüllt auch die Berge dort unten,
die er zu einer Silhouette ausschneidet (die große Kette, die
wir morgen besteigen müssen). Sein wohltuendes Licht ergießt
sich über die Wüste, macht den Unmöglichkeiten des Alpdrucks
ein Ende, befreit uns von den unlösbaren Verwirrungen, zeigt
uns einander, Gestalten, die sich von dem weißen Sand in
schwarzer Zeichnung abheben, und vor allen Dingen, sondert uns
ab, uns die Gruppen, die für dieselbe Karawane bestimmt sind,
von anderen gleichgültigen Gruppen oder Wegelagerern, die hier
und dort Aufstellung genommen haben und deren Gegenwart uns
überall beunruhigte.
Neuneinhalb Uhr. Der Wind legt sich. Es teilen sich die
Wolken, die Sterne kommen zum Vorschein. Alles ist eingepackt,
verladen. Meine drei Soldaten sitzen im Sattel und halten ihre
langen Gewehre gerade vor sich hin. Man führt uns unsere
Pferde zu, auch wir sitzen auf. Unter fröhlichem Geläute setzt
meine kleine Karawane sich in Bewegung, ein kleiner
unordentlicher Haufe, aber schließlich schlägt sie durch die
grenzenlose Ebene eine bestimmte Richtung ein.
Eine Ebene von grauem Schlamm, der gleich nach dem Sande
beginnt, eine Ebene von Schlamm, den die Sonne getrocknet hat,
und der mit Eindrücken übersät ist: Wege von hellerem Grau,
die unzählige Fußtritte im Laufe der Jahre getreten haben, das
sind die Pfade, die uns führen, und die sich vor uns in dem
unendlichen Raum verlieren.
Sie befindet sich auf dem Marsch, meine Karawane. Und sechs
Stunden Weges liegen vor uns, dann werden wir unser Quartier
um drei oder vier Uhr morgens erreichen.
Trotz des entmutigenden Aufbruchs, der niemals ein Ende zu
nehmen schien, befindet sie sich auf dem Marsch, ziemlich
schnell, ziemlich leicht und behend zieht sie dahin, durch den
unbestimmten Raum, dessen Ausdehnung durch keinen Merkstein
begrenzt wird.
Noch nie zuvor war ich früher in tiefer Nacht durch die
Wüste gereist. In Marokko, Syrien, in Arabien schlug man stets
noch vor der Stunde des Moghreb sein Lager auf. Aber hier ist
die Sonne so vernichtend, daß weder Menschen noch Tiere eine
Reise am hellen Tage aushalten könnten: diese Wege kennen nur
nächtliches Leben.
Der Mond geht am Himmel auf, schwere Wolken, die noch nicht
verschwunden sind, hüllen ihn von Zeit zu Zeit in
geheimnisvolle Nebel.
Meine Begleitung bilden lauter Fremde, Silhouetten, deren
Umrisse echt persisch erscheinen; die Gesichter sind alle neu
für mich, diese Kleidung, diese Rüstungen sehe ich zum
erstenmal.
Unter eintönig harmonischem Geläute dringen wir allmählich
in der Wüste vor: Große Glocken mit ernstem Ton, die unter den
Bäuchen der Maultiere hängen, kleine Glöckchen und Schellen,
die sich in einem Kranz um ihren Hals winden. Und ich höre
auch die Leute meines Gefolges, wie sie in den hohen Tönen des
Muselmanns ganz leise singen, als träumten sie.
Meine Karawane ist schon ein abgeschlossenes Ganzes
geworden. Ein abgeschlossenes Ganzes, das sich zuweilen in
einer langen Reihe ausdehnt, dessen einzelne Glieder unter dem
Mond, in der grauen Unendlichkeit weiten Abstand voneinander
nehmen, aber das sich dann unwillkürlich wieder schließt, das
sich von neuem zu einem geschlossenen Körper formt, so eng,
daß man sich gegenseitig mit den Beinen streift. Und man faßt
Zutrauen zu diesem instinktiven Zusammenhang, so daß man nach
und nach die Tiere laufen läßt, wie es ihnen beliebt.
Allmählich klärt sich der Himmel auf; mit einer
Geschwindigkeit, die diesen Zonen eigen ist, zerteilen sich
die Wolken dort oben, die so schwer erschienen, ohne Regen zu
spenden.
Und in dieser Einöde strahlt jetzt der Vollmond, wunderbar
und einsam. Die ganze heiße Atmosphäre ist gebadet in seinen
Strahlen, die ganze sichtbare Ausdehnung ist überflutet von
einer weißen Klarheit.
Es kommt zuweilen vor, daß irgendein launenhaftes Maultier
sich hinterlistig entfernt, daß es, man weiß nicht warum, eine
verkehrte Richtung einschlägt; aber es ist leicht zu erkennen,
da es sich mit seiner Last, die wie ein großer buckliger
Rücken aussieht, schwarz inmitten dieser ruhigen, hellen
Fernen abhebt, wo weder ein Felsen noch ein Grasbüschel die
gerade Fläche unterbricht; einer unserer Leute läuft ihm nach
und führt es zurück, indem er mit geschlossenem Mund den
langen Schrei ausstößt, der hier der Ruf der Maultiertreiber
ist.
Und die leise Musik unserer Reiseglocken fährt fort, uns
mit ihrer süßen Eintönigkeit einzuwiegen; das unaufhörliche
Glockenspiel in dem unaufhörlichen Schweigen schläfert uns
ein. Einige der Leute schlafen jetzt ganz; ausgestreckt liegen
sie wie tot auf dem Halse ihres Maultieres, den sie mechanisch
mit beiden Armen umschlingen. Ihr bewußtloser Körper ist durch
ein Nichts aus dem Sattel zu werfen, und ihre langen nackten
Beine baumeln herunter. Andere sitzen noch aufrecht und singen
ohne Unterbrechung zu dem Geläute der hängenden Glocken, aber
vielleicht schlafen auch sie.
Wir haben jetzt die Zonen des rosa Sandes erreicht, mit
einer seltsamen Regelmäßigkeit ist er gezeichnet, auf dem
getrockneten Schlamm des Bodens zieht er sich in zebraartigen
Streifen dahin, und die weite Wüste gleicht einem
großgemusterten Teppich. Und vor uns am Horizont, aber noch
weit entfernt, liegt die Gebirgskette mit ihrer senkrechten
Mauer, die die erstickenden Regionen hier unten begrenzt und
die den Rand der weiten Hochebene Asiens bildet, den Rand des
wirklichen Persiens, den Rand von Persien, Chiraz und Ispahan:
dort oben, zwei- oder dreitausend Meter über den todbringenden
Ebenen, ist das Ziel unserer Reise, das Land, das wir
ersehnen, aber das so schwer zu erklimmen ist, das Land, wo
unsere Mühen ein Ende haben werden.
Mitternacht. Etwas, das einem erfrischenden Windhauch
ähnlich ist und uns nach der Backofenhitze des Tages
erquickend erscheint, wirkt plötzlich wie befreiend auf uns.
Über die rosa und grau gemusterte unendliche Ebene ziehen wir
wie hypnotisiert dahin.
Ein Uhr, zwei Uhr morgens. Wie auf dem Meere in Nächten,
wenn man Wache geht, alles bei schönem Wetter leicht
erscheint, und man nur das Schiff gleiten zu lassen braucht,
so auch hier. Man verliert das Bewußtsein von der Dauer der
Zeit, bald erscheinen die Minuten lang wie Stunden, bald sind
die Stunden kurz wie Minuten. Übrigens ist auch hier nicht
mehr zu sehen als auf dem ruhigen Meer, nichts hebt sich in
der Wüste ab, das uns den zurückgelegten Weg angeben könnte.
Ich schlafe sicher, denn das kann nur ein Traum sein! . . .
Ganz in meiner Nähe reitet ein junges Mädchen auf einem Esel,
der Mond enthüllt mir ihre wunderbare Schönheit. Sie trägt
einen Schleier und einen Madonnenscheitel. Um Schritt zu
halten, bewegt der Esel seine kleinen Beine in leisem Trab
vorwärts . . .
Aber nein, sie ist wirklich von Fleisch und Blut, meine
hübsche Reisebegleiterin, und ich, ich wache! . . . Und dann
kommt mir in dem ersten Augenblick der Verwirrung der Gedanke,
daß mein Pferd meinen Halbschlaf benutzt hat, um mich
davonzutragen und sich irgendeiner fremden Karawane
anzuschließen.
Indessen erkenne ich zwei Schritt von mir entfernt einen
der Soldaten meiner Begleitmannschaft, und dieser Reiter vor
mir ist ja mein Tcharvadar, der sich im Sattel umdreht und
mich mit seinem ruhigsten Lächeln begrüßt . . . Rechts und
links von uns reiten andere Frauen auf anderen kleinen Eseln;
es ist ganz einfach eine Schar Perser und Perserinnen, die von
Bender-Bouchir zurückgekehrt sind und jetzt der Sicherheit
wegen um die Erlaubnis gebeten haben, mit uns diese eine Nacht
reisen zu dürfen.
Drei Uhr morgens. Auf der hellen Ebene zeichnet sich vor
uns ein dunkler Fleck ab und nimmt an Größe zu. Die Palmen,
das Grün der Oase, unser Marschquartier, und wir sind
angelangt.
Vor einem Dorfe, vor schlafenden Hütten steige ich
mechanisch ab, ich schlafe stehend, von einer guten, gesunden
Müdigkeit heimgesucht. Unter einer Art Scheune, die mit Stroh
bedeckt ist und in die die Mondstrahlen hineindringen,
schlagen meine persischen Diener in aller Eile kleine
Feldbetten für meinen Diener und für mich auf, nachdem sie
hinter uns ein durchsichtiges, plumpes aber sicheres Gitter
geschlossen haben. Ich sehe dies alles nur unbestimmt und
sinke dann in einen traumlosen Schlaf.