Reise durch Persien

Reise durch Persien

1925 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

Dritter Teil

Dienstag, 8. Mai

Heute tauchen die grünen Flecke der kleinen Oase zu beiden Seiten unseres Weges immer häufiger auf. Über einen ausgedörrten Boden eilen zahllose kristallklare Bäche dahin, sie springen aus den Spalten der schneebedeckten Berge hervor, werden von eifriger Menschenhand geleitet und verteilt und tragen hier und dort zu den verstreut liegenden, urbar gemachten Landstrichen dieser hohen Ebenen Leben und Fruchtbarkeit.

Gegen zehn Uhr morgens erreichen wir eine Stadt, die erste seit Chiraz. Sie nennt sich Abadeh. Ihre dreifachen Mauern aus Ton und Lehm fallen schon stellenweise zusammen, sie sind ungewöhnlich hoch, werden von drohenden Türmen überragt, und ihre blauglasierten Steine reihen sich zu Arkaden aneinander. Den Schmuck der Tore bilden Gazellenhörner, die man oberhalb des Spitzbogens in einem Kreise angebracht hat. Hier gibt es einen großen, überdachten Basar, in dem ein ungewöhnlich reges Leben herrscht; man verkauft Teppiche, Wolle, gewebt und in Strängen, verarbeitetes Leder, Steinschloßgewehre, Korn, Spezereien, die aus Indien gekommen sind. Heute findet außerdem in den engen Straßen ein Viehmarkt statt. Wohin das Auge sieht: Schafe und Ziegen. Die Frauen von Abadeh tragen hier nicht die kleine weiße, durchlöcherte Maske, aber ihr Schleier verhüllt sie deshalb nicht weniger: er ist nicht schwarz wie in Chiraz, hat keine gestickten Blumen oder Zweige wie auf dem Lande, nein, er ist stets blau, sehr lang, wird nach unten zu breiter und bildet eine Schleppe; um ihren Weg finden zu können, wagen sie von Zeit zu Zeit einen Blick durch die verborgenen Falten. Die also verschleierten Schönen gleichen anmutigen Madonnen, die kein Gesicht haben. Natürlich betrachtet man uns viel in dieser Stadt, aber ohne Mißtrauen, die Kinder folgen uns scharenweise, und in ihren Augen leuchtet die verhaltene Neugierde.

Wir beabsichtigten nach einer zweistündigen Ruhepause aufzubrechen, aber der Besitzer der Pferde weigert sich, er behauptet, die Tiere seien gar zu müde und wir müßten hier übernachten.

So sieht uns der melancholische Abend also in der Karawanserei von Abadeh vor dem Tore sitzend, auf dem man den Schmuck der Gazellenhörner angebracht hat. Hinter uns zeichnen die Zacken der jetzt im Schatten liegenden krenelierten Mauern sich von dem grüngoldenen Himmel ab. Und vor uns liegt die Stadt der Gräber: ein grauer Boden, auf dem kein Gras wächst, bescheidene Grabgewölbe aus grauem Stein, kleine Kuppeln, oder einfache Leichensteine; so weit das Auge reicht, nichts als Gräber, zum größten Teil sind diese schon so alt, daß wahrscheinlich niemand sie noch kennen wird. Die blauen Madonnen mit dem schleppenden Schleier wandeln in Scharen dort umher; in der hereinbrechenden Dämmerung gleichen sie mehr denn je Gespenstern. Im Hintergrunde wird der Horizont durch vier- bis fünftausend Meter hohe Gipfel abgeschlossen, deren Schneefelder in dieser Stunde bläulich leuchten, ihr Anblick erfüllt uns mit Kälte.

Sobald der erste Stern am klaren Himmel angezündet wird, schreiten die blauen Schatten langsam der Stadt zu, und die Tore schließen sich hinter ihnen. In diesen Ländern erstarrt das Leben mit Hereinbruch der Nacht; man fühlt die Traurigkeit, die unerklärliche Angst.

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