Unterwegs
Freitag, 20. April.
Ich erwache in dem weißgekalkten Zimmer der Karawanserei
von Konor-Takté. Ein Kamin verkündet, daß wir die Regionen der
ewigen Hitze verlassen und Gegenden erreicht haben, die sich
eines Winters rühmen können.
An der Decke scheinen zahllose kleine rosa Eidechsen zu
schlafen, andere spazieren harmlos und zutraulich auf unseren
Decken herum. Draußen hört man die Schwalben, die vor Freude
jauchzen, wie sie es bei uns zur Zeit des Nistens tun. Durch
die Fenster sieht man die Sträucher unserer Gärten, rosa
Oleander und blühende Granatbäume, und auch reifes Korn,
Felder, die den unseren gleichen. Keine erstickende Schwüle
mehr, keine Fieberdünste oder Schwärme giftiger Fliegen; man
fühlt sich fast schon befreit von dem verwünschten Golf, man
atmet wie in unseren Ländern an einem schönen Frühlingsmorgen.
Um fünf Uhr abends brechen wir auf, nachdem wir einen Teil
des Tages geschlafen haben. Wir gebrauchen ungefähr eine
Stunde, um das ländliche Gefilde zu durchschreiten, wo die
Ernte reif steht, wo Männer und Frauen die Sichel in der Hand,
im goldenen Korn zwischen Mohn und Rittersporn die Ähren zu
Garben binden; alle Blumen Frankreichs findet man hier
plötzlich, tausend Meter über dem Meeresspiegel wieder. Wie
eine Leinwand, die im Hintergrunde dies Paradies begrenzt,
erhebt sich senkrecht eine zweite Stufe der persischen Mauer,
eine Art hoher, dunkler Umzäumung, ein Wall, auf den wir
zusteuern, den wir diese Nacht überwinden wollen.
Die Sonne steht schon tief am Himmel, als wir in das Gewirr
dieser neuen Mauer, durch blutrote und schwefelgelbe Felsen in
einen engen Spalt, der gradeswegs in die Hölle zu führen
scheint, eindringen. Und im selben Augenblick umgibt uns eine
feindliche, eine wunderbar schreckensreiche Welt, eine Welt,
wo keine Pflanze mehr sprießt, sondern wo sich überall große,
zerklüftete Steine, von lebhaftem Gelb oder tiefem Rotbraun
gefärbt, erheben. Brausend durchschneidet ein Bach diese
Landschaft der Schrecken; seine milchigen Gewässer, die mit
Salzen durchtränkt und von metallischem Grün gefleckt sind,
scheinen ein Gemisch von Seifenschaum und Kupferoxyd. Man hat
das Gefühl, daß man hier in die Geheimnisse der mineralischen
Welt eindringt, daß man die verschwiegenen Zusammenstellungen
erlauscht, die dem organischen Leben vorangehen und es
vorbereiten.
Am Ufer dieses vergifteten Flusses, an dem wir zur Stunde
des Sonnenunterganges entlang reiten, liegt ein großes,
dunkles Dorf, ein Lagerplatz vielmehr, ein Haufen plumper,
schwärzlicher Hütten, in deren Umgebung kein Gras, nicht
einmal grüne Moose wachsen. Und Frauen treten dort heraus,
kommen heran, um uns zu betrachten, sie sehen spöttisch und
feindlich gesonnen aus; ein dunkler Schleier verbirgt ihr
Haar, sie sind sehr schön, haben freche gemalte Augen, und
sind weit brauner, von einem ganz anderen Typus als die
hübschen Schnitterinnen der Oase . . . es ist dies unsere
erste Begegnung mit den Nomaden, die zu Tausenden im Süden
Persiens auf den Hochländern leben, sie sind nicht zu
unterjochen, sind Räuber, die mit der Waffe in der Hand die
seßhaften Dörfer plündern, die zuweilen stark befestigte
Städte belagern.
Es ist die Stunde, wo die Herden heimzukehren pflegen, und
von allen Seiten eilen sie dem Nachtlager zu, sie steigen
herab aus höheren Zonen, wo man zweifellos bessere Weiden
findet; durch verschiedene Spalten in den großen Felsen sehen
wir Scharen von Ochsen und Ziegen senkrecht heruntergleiten,
sehen sie wie schwarze Bäche hinabrollen. Alles von derselben
schwarzen Farbe, die Herden der Nomaden, die Dächer ihrer
traurigen Hütten, und die Kleidung ihrer Frauen. Und die
Hirten, große, wilde, stolz dreinschauende Gesellen, kehren
auch zurück, neben dem Hirtenstab tragen sie über der Schulter
ein Gewehr und am Gürtel Säbel und Hirschfänger. In der
Dämmerung, am Ufer dieses schreckeneinflößenden Flusses, in
einem schmalen, von Felsen überdachten Tal, stoßen wir auf
alle diese Menschen und Tiere, einen Augenblick gerät unsere
Karawane in Unordnung, und eins unserer Maultiere, das ein
Stier mit den Hörnern gestoßen hat, wirft sich mit seiner Last
zu Boden.
Die Nacht findet uns in einer wilden Gegend wieder, sie ist
noch schrecklicher als gestern, erscheint noch gefährlicher,
weil sich das Chaos immer von neuem ändert. Überall sieht man
frische Felsstürze, sieht man Querrisse, die sich erst
kürzlich gebildet haben. Und zuweilen schweben über unseren
Köpfen große Steinblöcke, von denen man annehmen kann, daß sie
am Vorabend losgelöst und irgendwie im vollen Lauf aufgehalten
sind; ohne ein Wort zu sagen, deutet der Tcharvadar mit
erhobenem Finger darauf hin, und indem wir unseren Schritt
verlangsamen und ein unwillkürliches Schweigen beobachten,
reiten wir an den drohenden Gestaltungen vorbei.
Wir steigen immer weiter aufwärts an dem Lauf der Bäche,
der Wasserfälle entlang, die ein Längsbett gegraben haben,
zuweilen aber benützen wir auch die von den Karawanen
ausgetretenen Pfade. Unaufhaltsam hören wir in der zunehmenden
Dunkelheit der Nacht das Wasser unter den lärmenden Hufen
unserer Tiere plätschern; und dazwischen tönt das heisere
Gequake der sich anrufenden Frösche. Vergebens sucht man den
Schritten des Hintermannes zu folgen, inmitten dieser
gewaltigen Steine verliert man sich immer wieder aus dem Auge.
Eine Sternennacht, aber vor allem ist es die seltsam
glänzende Venus, die getreulich ihr sanftes Licht auf uns
herniederstrahlt. Um Mitternacht hatten wir schon eine
beträchtliche Höhe erreicht, und auf unbestimmten,
überhängenden Pfaden, die so glatt wie Glas sind, reiten wir
unmittelbar am Saume, ganz am Rande der Abgründe dahin.
Und zum Schluß stehen wir am Fuße eines senkrechten Berges,
ähnlich dem, den wir gestern kennenlernten, dieselben
schrecklichen kleinen Zickzacktreppen, dieselben schwankenden
Stufen. Unsere Pferde stehen auf den Hinterbeinen, klammern
sich wie die Ziegen an das Gestein an, von neuem müssen wir
länger als eine Stunde die schwindelnden Kletterversuche, den
unwahrscheinlichen Ritt nach dem Brocken wagen, es geht mitten
durch den Gestank der verwesten Maultiere hindurch, die längs
der Mauer aufgeschichtet liegen.
Wie gestern haben wir auch heute die Freude der plötzlichen
Ankunft auf dem Gipfel, die Freude, ganz unerwartet eine
Ebene, Land und Weiden wiederzufinden. Wir sind seit der
vorhergehenden Etappe ungefähr sechshundert Meter höher
gestiegen, und zum erstenmal seit dem Aufbruch erquickt uns
eine wirkliche Frische, eine himmlisch labende Ruhe.
Aber heute ist die Ebene nur eine lange Terrasse, am Fuße
der dritten Bergstufe gelegen, die man hier ganz in der Nähe
sieht; eine lange Terrasse, eigentlich nur ein Balkon, dessen
Tiefe kaum mehr als eine halbe Meile beträgt; irgendein Riß,
wie ihn die geologischen Stürme gebildet haben; allmählich hat
sich dort Dünger angesammelt, und so ist hier im Laufe der
Jahre ein hängender Garten, ein kleines von der übrigen Welt
abgeschiedenes Arkadien entstanden. Wir reiten durch die
Mohngefilde dahin, deren Blüten sich während der Nacht zu
großen, weißseidenen Kelchen erschlossen haben, wir streifen
die Kornfelder, die Sonne hat die Ähren noch nicht gereift wie
dort unten, und am Tage müssen sie in wunderbarem Grün
aufleuchten.
Nach einstündigem, friedlichen Ritt erscheinen Lichter
zwischen den Bäumen, und in der Ferne bellen die Wachthunde:
es ist Konoridjé, das Dorf, wo wir die Nacht beschließen
werden; bald unterscheidet man zwischen den schönen Datteln,
die es beschatten, die kleine Moschee, die vielen weißen
Terrassen, die in dem Sternenlicht bläulich leuchten. Hier muß
ein nächtliches Fest gefeiert werden, denn man hört jetzt
Trommeln und Pfeifen und von Zeit zu Zeit den Freudenschrei
einer Frau, der ebenso gellend ist wie der Schrei der Mauren
in Algier . . .
Es ist mir nicht möglich zu sagen, welch ein Reiz des
Orients und der Vergangenheit dies kleine einsam gelegene Land
erfüllt und es jetzt um Mitternacht, wo wir uns seinen hohen
Palmen nähern, mit jenen alten, kindlichen Melodien
durchflutet. Aber mein Diener, ein Matrose, der keine
bilderreichen Gleichnisse kennt, und der die Wörter immer nur
in ihrer absoluten Bedeutung gebraucht, drückt mir sein
schüchternes Entzücken in den ganz einfachen Sätzen aus: »Das
Dorf hat eine Luft, . . . eine verzauberte Luft!«