Zweiter Teil
Freitag, 27. April.
Bim bam, bim bam, kling, ling, ling . . . Der Einzug der
Karawanen! . . . Das Glockenspiel, hier die ständige Musik um
Sonnenaufgang, weckt mich diesmal kaum, und morgen werde ich
es wahrscheinlich wie alle anderen Laute überhaupt nicht mehr
hören.
Heute ist ein Freitag, das heißt der Sonntag des
Muselmanns, so kann ich also keine Reisevorbereitungen
treffen, alles ist geschlossen.
Ein zufälliges Ereignis des heutigen Morgens wird von
Wichtigkeit für unser puritanisches Leben: mein Diener erzählt
mir, daß auf dem Nachbardach, einem terrassenförmigen Dach,
auf dem wir bis jetzt nur einige nachdenkliche Katzen sahen,
zwei Paar grünseidene Strümpfe und ein Paar Damenpluderhosen
zum Trocknen aufgehängt sind; vor Hereinbruch der Nacht wird
wahrscheinlich jemand hinaufsteigen, um sie zu holen, und wenn
wir auf der Lauer liegen, haben wir dann vielleicht
Gelegenheit, eine der geheimnisvollen Nachbarinnen zu sehen.
Um die Sitte der guten Bürger von Chiraz zu beobachten,
laßt uns diesen Freitagmorgen dazu benutzen, einen Ausflug
aufs Land zu machen (man verläßt die Stadt durch die großen,
spitzbogigen Tore, oder, wenn man es vorzieht, durch die
zahlreichen Öffnungen in den Wällen, wo der ständige Durchzug
der Karawanen wirkliche Pfade getreten hat). Und dann liegt
die Ebene vor uns, die weite Ebene, die überall von wild
zerklüfteten Bergen umgeben, die von allen Seiten so hoch
eingeschlossen ist, als wäre sie nur der unendlich große
Garten eines eifersüchtigen Persers. Das Grün des Grases und
des Getreides, das frische Grün der Pappelwände unterbricht
zuweilen das ewige Grau der Landschaft; aber man kann trotzdem
sagen, daß dieses sehr weiche, oft rosa schattierte Grau alles
in Chiraz beherrscht, den Boden der Felder, die Erde oder die
Steinmauern. Über den hohen, fast verfallenen Wällen, von
denen wir uns allmählich entfernen, erheben sich in gewissen
Abständen ganz kleine, spindelförmige, blau und grün glasierte
Obelisken. Und je weiter wir reiten, um so deutlicher tauchen
die großen Kuppeln der Moscheen aus der grauen Stadt auf. Auch
sie zeigen dieselbe Farbe, die ewig gleiche blaugrüne Glasur.
Unter dem bleichen, reinen Himmel ziehen sich gleich
Katzenschwänzen weiße Wolken von der Durchsichtigkeit ganz
leichter Gewebe dahin. In diesem hochgelegenen Lande sind die
Farben aller Gegenstände zuweilen so zart, daß uns jede
Bezeichnung für sie fehlt, und dem Licht, der Ruhe dieses
Morgens haftet etwas unaussprechlich Weiches, Paradiesisches
an. Trotzdem ist dies alles traurig, – und zwar tragen hieran
schuld: die Abgeschiedenheit von aller Welt, die alles
einschließende Kette der Berge, das Geheimnis der langen
Mauern, der ewige schwarze Schleier, die ewige Maske vor dem
Antlitz der Frau.
Da heute, wie gesagt, mohammedanischer Sonntag ist, ergehen
sich alle Frauen von Chiraz, gleich schwarzgekleideten
Gespenstern, in der hellen Ebene, schon vom frühen Morgen an
richten sie ihre Schritte nach den großen, eingeschlossenen
Gärten, nach dem Paradiese, das uns nicht zugänglich ist, und
dort entfernen sie ihren Schleier und ihre Maske, um in
Freiheit in den Orangen-, Zypressen- und Rosenalleen
lustwandeln zu können, wir aber werden sie nicht sehen. Auf
dem Wege, dem wir folgen, ertönt das Glockenspiel von tausend
kleinen Glöckchen, eine verspätete Maultier-Karawane zieht zu
ungewohnter Stunde zur Stadt hinein. Und in der Ferne sieht
man die Straße, die gen Ispahan führt, sieht man wie immer den
Zug der Esel und der Kamele, den Zug, der dies Land mit dem
Persien des Nordens verbindet.
Die Frauen, die hier dem Rosenpflücken entgegeneilen, sind
von verschiedenem Rang; aber alle tragen sie den schwarzen
Schleier, alle sind sie in Trauergewänder gehüllt. Nur ganz in
der Nähe, wenn man die Hand, den Pantoffel, die mehr oder
weniger feinen, die mehr oder weniger stramm sitzenden
Strümpfe beobachtet, entdeckt man den Unterschied. Zuweilen
reitet eine der vornehmen Damen, in grünseidenen Strümpfen,
ganz mit Ringen übersät, auf einem weißen Maultier oder einer
weißen Eselin, die ein Diener am Zügel führt. Das Tier trägt
eine goldgefranste Decke. Die Kinder dieser unsichtbaren
Schönen folgen ihr zu Fuß; die kleinen Knaben, sogar die
allerkleinsten, sehen sehr wichtig aus mit ihren hohen
Astrachanhüten und ihren gar zu langen Kleidern; die kleinen
Mädchen sind fast alle entzückend, besonders die
zwölfjährigen, sie verhüllen noch nicht ihr Gesicht, tragen
aber schon einen schwarzen Schleier, unter dem sie sich sofort
in drolliger Verwirrung verbergen, sobald man sie ansieht.
Das ganze schöne Geschlecht verschwindet durch die
bogenförmigen Pforten hinter den Mauern der Gärten, wo sie
alle den übrigen Teil des Tages verbringen werden.
Bald sind wir allein mit den einfachen Leuten in einer
Ebene, deren graue Töne durch Rosa und zartes Grün belebt
werden; über uns wölbt sich ein wunderbarer Himmel. Aber man
sieht nichts mehr; wir kehren deshalb in die alte Stadt mit
ihren Lehmwällen und ihren Glasurbekleidungen durch irgendeine
Öffnung in der Mauer zurück. Sobald wir das überdachte
Labyrinth erreicht haben, ist es dunkel und schwül. Das
Labyrinth ist fast menschenleer. Die Traurigkeit eines
Sonntags liegt über Chiraz, eine Traurigkeit, die hier noch
weit empfindlicher ist, als in den westlichen Städten.
Besonders dunkel ist der große Basar, wie er in dem Schatten
seiner steinernen Gewölbe daliegt; in den langen Alleen
begegnet man keiner lebenden Seele, alle Läden sind mit alten
Holzjalousien verrammelt, mit dicken, uralten Riegeln
verschlossen, hier herrscht das Schweigen, der Schrecken der
Katakomben; der Druck, der über Chiraz liegt, wird an einem
solchen Tage zur Angst, und wir empfinden die größte Lust,
koste es, was es wolle, davonzulaufen und von neuem das
Wanderleben unter freiem Himmel, in einem großen Raum,
aufzunehmen . . .
Was soll man heute beginnen? Nach dem Mittagsschläfchen
wollen wir bei dem guten Hadji-Abbas eine Kalyan rauchen und
einen gefrorenen Sorbet trinken, er hat uns versprochen, uns
einen dieser Tage zu den Gräbern des Dichters Saadi und des
edlen Hafiz zu führen.
Und dann geht's zu den van L...s, ich empfinde fast etwas
wie Freude, heute nachmittag Leute, die mir verwandt sind, um
einen Fünf-Uhr-Teetisch versammelt, wiederzufinden. Sie
erzählen mir diesmal, daß es noch weitere drei Europäer in
Chiraz, dort unten in den Gärten der Vorstadt gibt: einen
englischen Missionar mit seiner Frau, einen jungen englischen
Arzt, der einsam lebe und den Armen hilft. – Und dann teilt
Madame van L. mir ihren Traum mit, sich ein Klavier kommen zu
lassen, man hat ihr ein zerlegbares Klavier versprochen, das
stückweise auf Karawanenmaultiere geladen werden könnte! . . .
Ein Klavier in Chiraz, welch ein Unsinn! Nein, ich kann mir
das Klavier, und sei es auch zerlegbar, nicht zu nächtlicher
Stunde die zerklüfteten Felstreppen Irans hinanreitend,
vorstellen.
In der Wohnung, wo wir uns zur Stunde des Moghreb
verbarrikadieren, stehen uns im Laufe des Abends zwei
Ereignisse bevor. Die Ausrufer, oberhalb der Stadt, haben kaum
ihr Abendgebet gesungen, als auch schon der Diener ganz
aufgeregt in mein Zimmer stürzt: »Die Dame, die die grünen
Strümpfe trocknet, ist auf dem Dach!« Und ich folge ihm eilend
. . . In der Tat, die Dame steht da, aber ihr Rücken ist in
ganz gewöhnlichen Kattun gehüllt und ihr Kopf mit einem Tuch
bedeckt, dieser Anblick ist schon enttäuschend für uns . . .
Sie wendet sich um und sieht uns spöttisch an, als wolle sie
sagen: »Meine Nachbarn, geniert euch doch nicht!« Sie ist in
den Siebzigern und zahnlos; wahrscheinlich irgendeine alte
Dienerin . . . Waren wir so naiv, zu glauben, daß eine Schöne
auf das Dach steigen und sich der Gefahr, gesehen zu werden,
aussetzen würde!
Zwei Stunden später; es ist ganz dunkel, und auf all den
alten Mauern in der Umgegend stimmen die Käuze ihr Lied an.
Die Kerzen brennen; durch die geöffneten Fenster sieht man
hinaus in das durchsichtige Dunkel, ich nehme in Gesellschaft
meines Dieners, an dessen Nähe ich mich in den Karawansereien
gewöhnt habe, und der mein ständiger Begleiter geworden ist,
eine einfache Abendmahlzeit ein. Ein kleiner Sperling dringt
plötzlich mit unruhigem Flügelschlag zu uns herein und fällt
auf einen Strauß Monatsrosen, – jenen Rosen, die in Chiraz so
allgemein sind, und die jetzt unseren bescheidenen Tisch
schmücken. An einer unsichtbaren Wunde muß er leiden, denn
sein ganzer kleiner Körper zittert. Da wir ihm nicht helfen
können, bleiben wir unbeweglich sitzen, um ihn wenigstens
nicht zu erschrecken. Und einen Augenblick später stirbt er
auf demselben Platz vor unseren Augen, es ist vorbei, sein
Kopf fällt in die Rosen zurück. Irgendein giftiges Tier wird
ihn gestochen haben, folgert mein braver Tischgenosse.
Möglich, oder es mag auch eine Katze gewesen sein, die auf
ihrem nächtlichen Streifzug diesen Mord begangen hat. Aber ich
weiß nicht, warum dieser ganz schwache Todeskampf auf diesen
Blumen so traurig zu beobachten war, und meine beiden Perser,
die uns bedienten, sahen hierin eine üble Vorbedeutung.