Reise durch Persien

Reise durch Persien

1925 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

Unterwegs

Montag, 23. April.

In diese kleine, niedrige, von Rauch geschwärzte Grotte, wo wir wie tot daliegen, sickern schon lange die Sonnenstrahlen durch Löcher und Mauerrisse hinein, ohne daß jemand von uns sich gerührt hätte. Wie durch einen Nebel hören wir die uns schon vertrauten Laute: in dem Hof den Lärm der aufbrechenden Karawanen, die mit geschlossenem Munde ausgestoßenen Rufe der Maultiertreiber, und auf den Mauern das Morgenständchen der Schwalben, – das diesmal unzählige kleine Kehlen in jubelnder Lebensfreude in die Lüfte schmettern. Wir aber liegen an derselben Stelle, auf der wir gestern niederfielen, regungslos ausgestreckt da, eine seltsame Erstarrung hält uns gefangen.

Aber nachdem wir endlich unsere Behausung verlassen haben, erfüllt uns der erste Anblick, der sich uns bietet, mit Bestürzung und Schwindel. Wir waren ja mitten in der Nacht angekommen, und konnten deshalb etwas Derartiges nicht vermuten. Die Luftschiffer, die nach einem nächtlichen Aufstieg früh morgens erwachen, müssen eine ähnliche überwältigende und fast erschreckende Überraschung empfinden.

In unserer Umgebung ist nichts, was die unendliche Ausdehnung der Dinge unseren Blicken verbergen könnte. Wir brauchen nur die Augen zu öffnen, um uns der schwindelnden Höhe bewußt zu werden, zu der uns unser ansteigender Ritt durch die vielen Hohlwege, an den vielen Schlünden vorbei, und während so vieler Nächte, geführt hat; wir haben in einem Adlernest geschlafen, denn wir beherrschen die Erde. Zu unseren Füßen neigen sich ungezählte Gipfel – einst wurden sie alle von den kosmischen Stürmen nach ein und derselben Richtung gebeugt. Ein grelles, allbeherrschendes, ein schreckliches Licht fällt von einem Himmel herab, der sich noch nie zuvor so tief geoffenbart hat; es überflutet die vielen sich neigenden Berge, und mit der gleichen Deutlichkeit, so weit das Auge auch reicht, hebt es die einzelnen Formen der Felsen, die ungeheuren Kämme hervor. Zusammen, und von dieser Höhe aus gesehen, scheinen die scharfen und wie vom Winde gebeugten Gipfel in ein und derselben Richtung zu fliehen, sie gleichen einer riesengroßen Welle, die auf ein Meer von Steinen gehoben ist, und so täuschend ist diese Bewegung nachgeahmt, daß man sich fast von so viel Ruhe und Schweigen verwirrt fühlt. – Aber seit hundert, seit hunderttausenden von Jahren weht dieser Sturm nicht mehr, braust er nicht mehr, ist er erstarrt. – Und nirgends sieht man ein Zeichen von Leben, keine menschliche Spur, nichts, was Wald oder Gras verkünden könnte, einsam stehen die Felsen hier und herrschen, und wir schauen auf den Tod herab, aber der Tod ist voller Liebe und Glanz . . .

Jetzt liegt die Festung schweigend da, die andern Karawanen sind aufgebrochen, und sie erscheint fast ganz verlassen. In einem Winkel des von Mauern umgegebenen Hofes, wo nur unser Geschirr und Gepäck liegt, sitzen die Wächter der Festung, zwei Männer in langen Kleidern, sie rauchen schweigend ihre Kalyan, haben die Augen zu Boden gesenkt und sind unempfänglich für diese erhabene Aussicht, die sie nicht mehr zu sehen vermögen. Würden die Schwalben nicht singen, man hörte in dieser großen, schallempfindlichen Leere nicht den geringsten Laut.

Alles in dieser hochgelegenen Karawanserei ist derb, rauh und verwittert; die bröckelnden Mauern sind fünf bis sechs Fuß dick, die alten gespaltenen Türen haben Eisenbeschläge und armdicke Riegel, sie erzählen von Belagerung und Verteidigungen. – Außerdem befindet sich hier eine seltsame Schwalbenstadt: an allen Dächern, allen Gesimsen entlang bilden die sich aneinanderreihenden Nester wirkliche kleine Straßen; sie sind alle fest verschlossen und haben nur eine winzige Tür. Und da es die Jahreszeit des Ausbesserns, des Brütens ist, sind die kleinen Tiere sehr beschäftigt, jedes fliegt schnurgerade, ohne sich zu täuschen, in sein eigenes Haus, – das nicht einmal mit einer Nummer versehen ist.

Die immer tote Mittagsstunde führt uns wilde Gesellen, stark bewaffnete Reiter zu. Reisende, die im Vorübergehen in der Festung haltmachen, um sich einen Augenblick im Schatten auszuruhen und zu rauchen. Ganz in unserer Nähe unter den Steinbogen lassen sie sich mit tiefen Verbeugungen nieder. Schwarze Hüte, schwarze Bärte, dunkle assyrische Gesichter, die der Wind der Berge gebräunt hat, lange, blaue Kleider, ein Patronengürtel, der um die Hüften geschlungen ist. Sie riechen nach wilden Tieren und nach Wüstenminze. Auf wunderbare Teppiche, die sie unter den Sattel ihrer Pferde geschnallt hatten, setzen oder legen sie sich; wie sie uns erzählen, sind es die Frauen, die die Wolle also zu färben und zu weben wissen, – die Frauen dieses hochgelegenen, ein wenig phantastischen Chiraz, das wir wahrscheinlich morgen abend endlich erreichen werden . . .

Und bald hüllt uns der einschläfernde Rauch der Kalyans ein und steigt in die frischen reinen Lüfte der Gipfel. Mitten im Hof, in dem leeren Viereck, das die Sonne überflutet, schwirren die Schwalben hin und her, ihre kleinen schnellen Schatten zeichnen Tausende von Hieroglyphen auf den weißen Boden. Unter uns aber liegt immer noch der Schwindel der Gipfel, die riesengroße, versteinerte Welle, die noch in Bewegung zu sein, die noch zu fliehen scheint . . .

Um vier Uhr wollen wir aufbrechen, aber wo in aller Welt ist Abbas? Er wollte unsere Tiere holen, die zwischen den Felsen weideten, und er kommt nicht wieder zum Vorschein. Man wird unruhig, alle meine Leute suchen in den verschiedensten Richtungen den Berg ab; und ihre Rufe, ihre langen singenden Rufe, die sich Antwort geben, stören das gewöhnliche Schweigen der Gipfel. Endlich findet man ihn wieder, findet man Abbas, den Verlorenen, wieder, er kommt von weitem heran und führt ein Maultier, einen Flüchtling, mit sich. Um viereinhalb Uhr wird der Aufbruch stattfinden können.

Ich hatte zu meiner Begleitung drei Soldaten verlangt, wozu ich nach den Anordnungen des Oberhauptes von Bouchir berechtigt war, aber da es hier in dieser Gegend keine gibt, habe ich mich statt dessen mit drei Hirten aus der Umgegend zufrieden erklärt, und jetzt führt man sie mir vor: Wilde Gesichter, bis auf die Schultern herabfallendes Haar, vollständige Räubertypen; zerlumpte Kleider aus wunderbar stilvollen alten Stoffen, lange Steinschloßgewehre, an denen ein Amulett hängt, der Gürtel gespickt von Hirschfängern.

Und in einer langen Reihe ziehen wir über Geröll, über Pfade dahin, auf denen man sich den Hals brechen kann, ständig begleitet von einer Herde Büffel, die uns fortwährend mit den Hörnern streifen. In der seltsamen Klarheit des Raumes sieht man auch in der Ferne alle Einzelheiten, das große Gewirr der Berge und der Abgründe enthüllt sich unseren Blicken, breitet sich fügsam vor uns aus. Hier und da in den Falten der großen geologischen Risse, die die Abendsonne mit ihrem Rot sanft färbt, schlafen die wunderbar blauen Flächen, die Seen. Wir beherrschen alles, unsere Augen nehmen die Unendlichkeit auf, wie es die Augen der hochkreisenden Adler tun, unsere Brust weitet sich, um immer mehr von dieser reinen Luft einzuatmen.

Nachdem wir etwa fünfhundert Meter hinabgestiegen sind, sehen wir plötzlich zur Stunde des Sonnenunterganges, eine weite, grasbewachsene Ebene vor uns liegen, die in ihrer Einförmigkeit dem Meere gleicht, und die von den senkrechten Wänden der Gebirgsketten eingeschlossen wird. Das grüne Gras ist mit schwarzen Punkten übersät, man könnte fast glauben, zahllose Mückenschwärme hätten sich hier niedergelassen: es sind die Nomaden! Ihr Geschrei dringt zu uns herauf. Zu Tausenden liegen sie dort mit ihren ungezählten schwarzen Zelten, ihren ungezählten Büffelherden, mit ihren schwarzen Rindern und ihren schwarzen Ziegen. Und wir sollen mitten durch diesen Schwarm hindurchreiten.

Wir gebrauchen anderthalb mühevolle Stunden, um diese Ebene zu durchkreuzen, wo die Hufe der Tiere in die weiche, fette Erde einsinken. Das Gras ist üppig, dicht; der Boden heimtückisch, mit Wasserlachen und Sümpfen durchzogen. Und unaufhörlich sind wir von Nomaden umringt, die Frauen eilen scharenweise herbei, um uns zu sehen, und die jungen Leute galoppieren auf Pferden, die wilden Tieren ähnlich sind, neben uns her.

So reich dieser grüne Teppich, der sich in gleicher Pracht nach allen Richtungen hin ausdehnt, auch sein mag, wie ist er nur imstande, so zahllose Parasiten zu ernähren, die ausschließlich von ihm leben, und deren Kauwerkzeuge in ungezählter Menge ihn ohne Unterbrechung scheren? Das Wasser, das diesen Pflanzenreichtum unterhält, das überfließende und tückische, zwischen Schilf und zarten Gräsern verborgene Wasser, quillt unter jedem unserer Schritte auf. Und plötzlich fällt eins der Maultiere mit seiner Last zu Boden, seine Vorderfüße sind bis zu den Knien in dem Schlamm eingesunken; sofort stürzt eine Schar junger Nomaden in schwarzen Tunikas, gleich einem Schwarm schwarzer Raben, der sich auf ein sterbendes Tier niederläßt, mit lautem Geschrei heran, – aber sie wollen uns nur zu Hilfe kommen; sehr schnell und geschickt lösen sie die Zügel, befreien das gefallene Tier von seiner Last und richten es wieder auf; ich brauche mich nur bei der ganzen Runde zu bedanken und Silbermünzen auszuteilen, die sie nicht einmal verlangt haben, und die sie nicht ohne einen gewissen Stolz in Empfang nehmen. Und doch hatte man behauptet, daß diese Leute bösartig und es gefährlich sei, ihnen zu begegnen!

Es ist fast Nacht, als wir am Ende der feuchten grünen Ebene den Fuß der himmelhohen, überhängenden Felswand erreichen, aus der ein schäumender Fluß hervorspringt, den wir durchwaten müssen; das Wasser geht den Pferden bis an die Brust. In einer Vertiefung liegt ein Dorf verborgen, eng schmiegt es sich an den steilen Berg, ein Dorf, ganz aus Steinen erbaut, mit Wällen, Zinnen und Türmen; alles Sachen, die man kaum unterscheiden könnte, – so plötzlich dunkel ist es unter dem Vorsprung dieser schreckeneinflößenden Felsen, – wenn nicht rot aufflackernde Freudenfeuer die Häuser, die Moschee, die Zinnen erleuchteten. Im Kreise um diese Feuer spielen die Dudelsäcke, schlagen die Trommeln, und man hört auch den grellen Schrei der Frauen; eine große Hochzeit wird hier gefeiert.

Jetzt müssen wir unsere Begleiter wechseln, die drei bewaffneten Hirten, die wir in Myan-Kotal aus dem Adlerhorst mitgenommen haben, werden gegen drei andere Männer vertauscht; diese aber – Leute von der Hochzeitsgesellschaft – müssen an den Haaren herbeigeschleift werden, bevor sie sich dazu bequemen, aufzusitzen. Und es ist schwarze Nacht, als wir uns endlich, wenigstens für vier Stunden Weges, in einen dunklen Wald begeben.

Hier ist es kalt, wirklich kalt, was wir nicht genügend vorgesehen hatten, und bei unserer leichten Bekleidung wird uns frieren. Zwei unserer neuen Hüter benutzen dies dunkle Dickicht, um kehrtzumachen und zu verschwinden. Ein einziger bleibt bei uns, er reitet neben mir und wird uns sicher treu bis zu der Etappe begleiten. Dieser Wald ist unheimlich, übrigens auch übel berüchtigt; unsere Leute sprechen kein Wort und sehen sich oft um: die alten, zu dieser Stunde ganz schwarzen Bäume, mit ihren verkümmerten, verkrüppelten Formen, bilden zwischen den Felsen seltsame Gruppen; bei dem unbestimmten Licht der Sterne folgen wir den schwankenden Pfaden, die sich weißlich auf dem grauen Boden abzeichnen: wir reiten durch traurige Lichtungen, und tauchen wir von neuem im Walde unter, so erscheint uns dies noch furchterweckender; überall gibt es Schlupfwinkel und manch einen günstigen Hinterhalt.

Um zehn Uhr hören wir plötzlich ein Geräusch: Reiter, die nicht zu uns gehören, traben hinter uns her und scheinen uns zu verfolgen. Wir halten an, wir fassen sie ins Auge. Und dann erkennen wir sie an der Stimme; es sind dieselben Reisenden, die gestern abend unsere Gefährten waren. Warum hatten sie sich den ganzen Tag unsichtbar gemacht, und woher tauchen sie jetzt auf? Trotzdem nehmen wir wie gestern ihre Begleitung an.

Um Mitternacht verlassen wir den Wald und reiten in eine Steppe hinein, die endlos zu sein scheint, und wo ein eisiger Wind uns entgegenweht. Etwas sehr Weißes liegt auf dem Boden ausgebreitet. Sind es steinerne Tafeln, sind es große Tücher? – Ach, es ist Schnee, überall weiß beschneite Flächen.

Endlich haben wir die Hochländer Asiens erreicht, seit sieben Tagen klettern wir zu ihnen hinan. Diese Steppe scheint in den Himmel überzugehen, der wie ein schwarzer Ballen Seide aussieht, und auf dem die großen Sterne fast ohne Strahlen glänzen, als läge zwischen ihnen und uns kaum jenes sehr luftförmige, sehr durchsichtige Etwas. Unsere Füße und Hände sind vor Kälte erstarrt, trotzdem überfällt uns nach all den vielen Anstrengungen der letzten Nächte ein unbezwingbares Schlafbedürfnis, zum erstenmal seit unserer Abreise haben wir wirkliche Leiden zu ertragen, jeden Augenblick entfallen die Zügel den erstarrten Fingern, die sich, gegen unseren Willen, als seien sie abgestorben, von selbst öffnen.

Ein Uhr morgens. Ganz empfindungslos und fast erfroren, müssen wir wohl zu Pferde geschlafen haben, denn wir sahen die Karawanserei nicht auftauchen, und trotzdem ist sie ganz nahe, ragt unmittelbar vor uns auf, ein befestigtes Schloß könnte man sie nennen, mit Türmen geschmückte Mauern, ganz verlassen in dieser öden Einsamkeit gelegen, ruft sie den Eindruck von etwas riesenhaft Phantastischem hervor. Rings umher auf der Steppe liegen Hunderte von grauen Gestalten, sie gleichen einem Wald großer Steine, aber unbestimmt hört man das Geräusch des Atmens, riecht das Leben: es sind schlafende Kamele und Kamelhüter, die sich, in Decken eingehüllt, zwischen den unzähligen Warenballen ausgestreckt haben. Zwei oder drei Karawanenstraßen kreuzen sich am Fuße dieser befestigten Karawanserei; hier ist scheinbar ein ewiges Kommen und Gehen; im Innern wird alles überfüllt sein. Indessen öffnet man uns die eisenbeschlagenen Türen, die unter den Schlägen des schweren Klopfers laut widerhallen: wir treten in den Hof ein, wo Tiere und Leute durcheinander, wie auf dem Schlachtfelde nach einer Niederlage zusammengewürfelt liegen; und noch schneller als gestern fallen wir dem Schlaf in die Arme, strecken uns ohne Rangunterschied im Hintergründe einer Lehmhütte aus, unbekümmert um das Gewühl, den Schmutz, um das sehr wahrscheinliche Ungeziefer.

© seit 2006 - m-haditec GmbH - info@eslam.de