Dritter Teil
Sonnabend, 5. Mai
Dieselben geblümten Schleier stehen bei Sonnenaufgang vor
dem Tor, um uns fortreiten zu sehen; auch die Männer haben
sich hier versammelt, alle in blauen Gewändern, alle mit
schwarzen Hüten. Lange rosenrote Strahlen dringen durch die
klare, kalte Luft und lassen die Zinnen, die Spitzen der Türme
leuchten, während unter der morgendliche Schatten noch auf den
unbeweglichen Gruppen ruht, die sich am Fuße der Wälle
aufgestellt haben, und die uns bis zu dem Augenblick, wo wir
in einem Spalt des sehr nahen Berges verschwinden, mit den
Augen verfolgen.
Sofort befinden wir uns inmitten der wilden, engen und
tiefen Schlünde, und über unseren Köpfen neigen die schrägen
Felsen ihre drohenden Gipfel herab. Überall sieht man hier,
was sonst in Persien eine Seltenheit ist, Sträucher, blühenden
Weißdorn, der den Frühling verkündet, ja, sogar Bäume, große
Eichen; und sie befreien uns für eine Stunde von dem ewigen
Einerlei der Gräser und der Steine. Da diese Gegend scheinbar
der Zufluchtsort der Räuber ist, hielten meine Reiter von
Chiraz es für gut, sich drei kräftigen, jungen Leuten aus
Ali-Abad anzuschließen. Diese gehen zu Fuß, sind mit langen
Steinschloßgewehren, mit Hirschfängern und Amuletten
bewaffnet; aber trotzdem halten sie uns kaum auf, denn sie
sind gute Läufer und ungewöhnlich geschmeidig. »Vorwärts,
vorwärts« – rufen sie uns immer wieder zu, – »trabt nur ruhig
vorwärts, es ermüdet uns gar nicht.« Um besser laufen zu
können, haben sie die beiden Zipfel ihres langen blauen
Kleides mit einem Lederriemen, der um die Hüften geschnallt
ist, hochgehoben, ihre braunen, muskulösen Schenkel kommen zum
Vorschein, und sie gleichen also den Jägerprinzen auf den
Basreliefs von Persopolis, die ihre Kleider genau auf dieselbe
Weise mit dem Gürtel befestigten, wenn sie ausgingen, um die
Löwen oder Ungeheuer zu bekämpfen.
Und sie machen Seitensprünge, sie finden noch Zeit,
Wachteln und Perlhühner, die überall aufsteigen, zu verfolgen,
– ja, sogar können sie uns Königskräuter, kleine duftende
Sträuße mit ihrem schönsten Lächeln überreichen, wobei sie
ihre weißen Zähne zeigen. Kaum, daß ihnen der Schweiß unter
den schweren Mützen hervortropft.
Plötzlich öffnen sich die Schlünde, und vor uns liegt die
Wüste, strahlend, ewig, unendlich. Die Gefahr, so sagt man
uns, sei jetzt beendet, da die Räuber nur in den Schlünden der
Berge arbeiten. Wir können also unseren drei Beschützern aus
Ali-Abad danken und durch den weiten Raum dahingaloppieren;
unsere Pferde wünschen sich übrigens nichts Besseres, sie
waren schon ungeduldig, durch die Fußgänger, die zweibeinigen
Läufer, zurückgehalten zu werden, jetzt setzten sie wie zu
einer Fantasia davon. Die Pferde aber, die von meinen Reitern
aus Chiraz geritten waren, sind weniger schnell, weniger
launenhaft, sie scheinen mit einer Art Wollust
dahinzugaloppieren und mit der Grazie eines Schwanes biegen
sie ihre langen Hälse. Nirgends ein vorgezeichneter Weg, keine
Einzäunung, keine Grenzen, keine menschliche Spur; es lebe der
freie Raum, der jedermann und niemandem gehört! Die Wüste wird
ganz in der Ferne, rechts und links, von schneebedeckten
Gipfeln eingerahmt, sie dehnt sich vor uns aus, dehnt sich aus
bis zu dem fliehenden Horizont hinan, den man niemals
erreichen wird; die Wüste ist durchzogen von weichen,
wellenförmigen Linien, sie gleichen den Wogen des Ozeans, wenn
es windstill ist. Die Wüste zeigt eine blasse, grüne Färbung,
sie scheint hier und dort von einer leicht violetten Asche
bestäubt zu sein; – und diese Asche ist der Blütenflor der
seltsamen, traurigen, kleinen Pflanzen, die unter der gar zu
sengenden Sonne, unter dem gar zu kalten Winde ihre farblosen,
fast grauen Kelche öffnen, die aber immer duften, deren Saft
selbst ein Wohlgeruch ist. Die Wüste ist anziehend, die Wüste
ist voller Reize, die Wüste ist reich an wunderbaren Düften;
ihr fester, trockener Boden ist ganz von Wohlgerüchen
durchtränkt.
So belebend scheint die Luft, daß man behaupten könnte,
unsere Pferde seien unermüdlich; heute morgen galoppieren sie
so leicht und munter dahin, und ihr kupferner Schmuck rasselt,
und ihre Mähnen flattern launisch im Wind. Unsere Reiter von
Chiraz vermögen nicht, uns zu folgen, wir verlieren sie aus
dem Auge, jetzt verschwinden sie hinter uns in der Ferne der
blaßgrünen, der blaßschillernden endlosen Ebene. Tut nichts!
Man sieht so weit nach allen Seiten, und der leere Raum ist so
tief, welche Überraschungen brauchten wir wohl zu befürchten?
Wir treffen eine große Herde schwarzer Rinder, schwarzer
Kühe, kein Hirte bewacht sie; einige der jungen Stiere
springen und schlagen hinten aus bei unserem Anblick,
beschreiben seltsame Linien, aber nur zum Vergnügen und um
Aufsehen zu erwecken, nicht um sich auf uns zu stürzen, da wir
ihnen kein Leid zufügen wollen.
Gegen neun Uhr morgens sieht man, ungefähr im Abstand von
einer Meile, zur linken Hand, in der sich neigenden Ebene,
große Ruinen hervorragen, Ruinen der Achämeniden, zweifellos,
denn die auf dem Steinhaufen noch aufrechtstehenden Säulen
sind fein und schlank wie in Persepolis. Welch ein Palast ist
dies, und welcher erhabene Fürst bewohnte ihn zu jenen Zeiten?
Kennt man diese Ruinen, hat irgend jemand sie erforscht? Wir
wollen nicht den Umweg machen und uns hier aufhalten, heute
morgen haben wir einen schnellen Ritt von fünf Stunden
zurückzulegen, und wir befinden uns ganz in dem physischen
Rausch, vorwärts durch den Raum dahinzufliegen. Die höher
steigende Sonne brennt ein wenig auf unsere Köpfe herab, um
uns zu erfrischen, weht ein Wind, der über die Schneegefilde
dahingestrichen ist. Die weißen Gipfel verfolgen uns noch
immer zu beiden Seiten der Ebene. Diese gleicht einer endlosen
Allee, ist mehrere Meilen breit, und lang, ja, man weiß nicht
zu sagen wie lang . . .
Um elf Uhr zeichnet sich ein wirklich grüner Fleck dort
unten ab und wächst schnell heran, unseren Augen, die sich
schon an die Oasen Irans gewöhnt haben, verkündet er ein
Stückchen Erde, durch das ein Bach fließt, ein Stückchen Erde,
das man bebaut, eine menschliche Ansiedlung. Und in der Tat,
zwischen das ganz frische, zitternde Grün mischen sich Wälle
und Zinnen; es ist ein kleiner Weiler, er nennt sich
Kader-Abad, und gibt sich durch seine baufälligen Lehmmauern
den Anschein einer Festung. Dort nehmen wir unser mittägliches
Mahl ein, auf den Teppichen Chiraz' sitzend, in dem Gärtchen
der bescheidenen Karawanserei, im Schatten der dürren
Maulbeerbäume, die der Frost des Frühlings entblättert hat.
Und nach und nach wird die Mauer hinter uns geschmückt mit den
Köpfen der Frauen und der kleinen Mädchen, eine nach der
anderen tauchen sie schüchtern hervor, um uns zu betrachten.
Wir wollten gerade aufbrechen, als ein verworrenes Getöse
das Dorf erfüllt, alles eilt herbei, hier geht etwas vor sich
. . . Man sagt uns, es sei eine vornehme Dame angekommen, eine
sehr vornehme Dame, ja sogar eine Prinzessin mit ihrem
Gefolge. Seit einer Woche befindet sie sich auf der Reise nach
Ispahan, und für diese Nacht bittet sie in den Mauern
Kader-Abdas um Schutz und Obdach.
In der Tat nähert sich jetzt ein Trupp berittener Männer,
ihre Beschützer, sie reiten vor ihr her, sitzen auf schönen
Pferden, deren gestickte Sättel goldene Fransen zeigen. Und in
dem Tor der zinnengekrönten Mauer sieht man etwas ganz
Seltsames zum Vorschein kommen: eine Karosse! Eine Karosse mit
purpurroten, seidenen Vorhängen, die Pferde sind abgespannt,
und sie wird von einer Anzahl Hirten gezogen; scheinbar kommt
sie von Chiraz, man hat einen längeren, aber weniger
gefährlichen Weg als den unsern gewählt; ein Rad ist
gebrochen, alle Federn mußten durch Taue verstärkt werden, die
Reise verlief nicht ohne Beschwerden. Und hinter dem
beschädigten Wagen schreitet die geheimnisvolle Schöne ruhigen
Schrittes daher. Jung oder alt, wer vermöchte es zu sagen?
Natürlich ist es ein Schatten, aber ein Schatten voller Anmut;
sie ist ganz in schwarze Seide gehüllt und trägt vor dem
Gesicht eine weiße Maske, aber ihre kleinen Füße zeigen
elegantes Schuhwerk, und ihre zarte Hand, die den Schleier
zusammenhält, ist mit grauen Perlen bedeckt. Um besser sehen
zu können, steigen alle Frauen Kader-Abads auf die Dächer, und
die braunen Mädchen eines Nomadenstammes laufen so schnell die
Füße sie zu tragen vermögen, aus ihrem Lager herbei. Der Dame
folgen ihre Begleiterinnen, auch sie sind undurchdringlich
verschleiert, zu zweien nähern sie sich auf weißen Maultieren,
in großen, rotverhangenen Käfigen. Und endlich bilden zwanzig
Maultiere den Beschluß, sie tragen Ballen oder Koffer, die mit
kostbaren samtähnlichen Geweben bedeckt sind.
Wir unsererseits brechen jetzt auf und verlieren uns sofort
in der großen Wüste. Von einem jeden dieser Hügel aus, die wir
unaufhörlich erklimmen müssen, um dann wieder hinabzusteigen,
entdecken wir immer neue Ebenen, und alle sind sie gleich
leer, gleich unberührt und wild, alle liegen sie in der
gleichen wunderbaren Klarheit da. Man atmet eine süße Luft
ein, eine Luft, die unter einer blendenden Sonne doch kalt
ist. Der mittägliche Himmel zeigt ein hartes Blau, und einige
perlmutterfarbene Wolken zeichnen die bestimmten Umrisse ihrer
Schatten auf den nimmer endenden Teppich, der hier den Boden
bedeckt, ein Teppich aus zarten Gräsern, aus Königskraut und
Quendel, aus kleinen seltenen Orchideen, deren Blüte einer
grauen Fliege gleicht . . . Wir reiten in einer Höhe von zwei-
bis dreitausend Meter dahin. Heute abend treffen wir keine
Karawane, haben keine Erlebnisse.
Seit heute morgen haben die beiden Gebirgsketten uns
verfolgt, jetzt wo der Tag erstirbt, nähern sie sich einander.
Mit einer Klarheit, die das Auge täuscht, zeigen sie uns das
ganze Chaos ihrer Gipfel, wie es in einem dunklen Blau, in den
wunderbar violetten Tönen, die in Rosa übergehen, daliegt, man
könne sagen, es seien Geisterschlösser, babylonische Türme,
apokalyptische Städte, die Trümmer einer Welt; und der Schnee,
der dort in allen Falten der Abgründe schläft, sendet uns eine
wirkliche Kälte entgegen.
Indessen winkt uns ein neuer grüner Fleck in der Ferne, er
zeigt uns unser Nachtquartier für heute abend. Die immer
gleiche, kleine Oase, die Kornfelder, einige Pappeln und in
der Mitte die Zinnen eines Walles.
Es ist Abas-Abad. Aber die Karawanserei ist besetzt, sie
beherbergt eine reiche kaufmännische Karawane, und nicht für
Gold kann man uns dort Platz verschaffen. So müssen wir uns
also ein Obdach bei ganz bescheidenen Leuten suchen, die über
einem Stall zwei aus Lehm erbaute Zimmer besitzen, das eine
wollen sie uns abtreten. Die zahlreiche Familie, die Knaben
und Mädchen siedeln in den andern Raum über, der sonst wegen
eines schadhaften Daches, durch das die Kälte eindringt,
unbewohnt war. Auf einer abgenutzten Treppe, auf der man
ausgleitet, steigen wir zu diesem wüsten, verräucherten,
schwarzen Lager hinauf; man beeilt sich, die armseligen
Matratzen, die Krüge, die Näpfe, die Weizenkuchen, die
Steinschloßgewehre, die alten Säbel fortzutragen und die
Hühner mit ihren Küchlein hinauszujagen. Dann muß man uns ein
Feuer anzünden, denn die Luft ist eisig. In diesem waldarmen
Ländern, wo es nicht einmal Strauchwerk gibt, heizt man mit
einer Art Distel, die wie die Sternkorallen in der Gestalt von
stachlichten Fladen wächst; die Frauen sammeln sie in den
Bergen und trocknen sie für den Winter. Diese Disteln
schichtet man mehrere Fuß hoch im Herd auf, und sie knattern
und brennen in tausend lustigen kleinen Flammen. Die Hauskatze
war zuerst mit ihren Herren umgezogen, sie entschließt sich
jetzt aber, zurückzukehren, um sich an unserem Feuer zu
wärmen, und sie geht auch darauf ein, mit uns zusammen zu
Abend zu essen. Die beiden jüngsten Mädchen, zwölf und
fünfzehn Jahre alt, hatten bei unserm Auspacken wie
versteinert dagestanden, jetzt schleichen sie auf Zehenspitzen
heran und können sich gar nicht losreißen von dem Anblick, den
ihnen unsere Mahlzeit gewährt.
Übrigens sind sie alle beide so komisch, daß man ihnen
nicht böse sein kann, sind so unschuldig schön, unter ihren
persischen Schleiern mit dem altmodischen Muster, mit ihren
roten samtweichen Wangen, die einem Septemberpfirsich
gleichen, mit den fast zu langen, zu geraden Augen, deren
Winkel sich unter dem schwarzen Schleier verlieren – schauen
aber vor allen Dingen so ehrlich, keusch, so naiv drein. Erst
als wir uns hinlegen, ziehen sie sich zurück, nachdem sie noch
einmal einen ganzen Haufen Disteln ins Feuer geworfen haben;
und alsdann umfängt uns die Kälte, das erhabene Schweigen, das
die nahen Gipfel und ihre Schneegefilde ausstrahlen, und das
sich mit der Nacht über die Einsamkeiten der Umgebung lagert,
über das kleine lehmerbaute Dorf, über unsere elende Kammer
und unseren gesunden, traumlosen Schlaf.