Unterwegs
Sonntag, 22. April.
Das kleine Zimmer war wie alle Zimmer der Karawansereien
vollständig leer, und eine unbeschreibliche Unsauberkeit
herrschte dort. Die aufgehende Sonne zeigt uns die Lehmwände,
die der Rauch geschwärzt hat, und die mit langen persischen
Inschriften übersät sind. Den Fußboden bedeckten alte
Salatblätter, Kehrricht, Unflat, Eulenfedern und Schmutz. Aber
durch die Risse des Daches, wo das Gras sprießt, dringen die
goldenen Strahlen der Sonne, die Düfte der Orangenbäume, das
Morgenständchen der Schwalben. Drum einerlei, wie auch das
Lager aussehen mag, wir können sogleich hinabsteigen, können
in all die Pracht hinausfliehen.
Unten strahlt das wunderbare Gehölz in hellstem
Morgenschein wieder, darüber spannt sich ein unvergleichbarer
Himmel, der durchzittert ist von dem jauchzenden Lied der
Schwalben. Man atmet eine feuchte, belebende, schmeichelnde
Luft ein. Die großen Orangenbäume mit dem dichten Laub werfen
einen blau-schwarzen Schatten auf den Boden, der von ihren
Blumen übersät ist. Alle Karawanenreisenden, die über Nacht in
den Alleen geschlafen haben, wachen voller Wohlbehagen auf,
bleiben aber noch auf ihren schönen Teppichen aus Yezd oder
Chiraz liegen, denn sie werden wie wir erst bei
Sonnenuntergang aufbrechen; wir sind also darauf angewiesen,
in diesem wunderbar frischen Gehege, das den Gasthof
darstellt, den Nachmittag zusammen zu verbringen und
Bekanntschaft zu machen.
Bald kommen aus der Stadt die Bäcker und Teekocher hierher.
Sie stellen ihre Samowars, ihre winzigen, vergoldeten Tassen
im Schatten auf und machen sich dann daran, ihre langohrigen »Kalyans«,
die persischen Pfeifen, deren Rauch einen einschläfernden Duft
verbreitet, in Ordnung zu bringen.
Und während unsere Pferde und Maultiere ringsumher
friedlich grasen, schwindet der Tag für uns und für unsere
zufälligen Reisegefährten in einer einzigen großen Ruhe dahin.
Unter den schattenden Zweigen der Bäume rauchen wir,
verträumen wir im Halbschlaf die Zeit, bieten wir uns
gegenseitig in ganz kleinen Tassen den sehr süßen Tee, das
ständige Getränk der Perser, an.
Von einem ganz eigenartigen Zauber ist der Friede, der um
die Mittagsstunde herrscht, unter den Orangenbäumen wohnt auch
dann noch die grüne Dämmerung, aber draußen funkelt und brennt
die Sonne und überflutet mit ihrem Feuer die ausgedörrten
Berge, zwischen denen Kazeroun eingeschlossen liegt.
Die Mitglieder meiner kleinen Karawane lernen sich jetzt
allmählich näher kennen, mein Tcharvadar Abbas und sein Bruder
Ali sind meine Kameraden geworden, die mir bei der Kalyan
Gesellschaft leisten, und mit denen sich gut plaudern läßt;
alles erscheint so viel leichter, das abendliche Aufladen, die
Anordnungen vor dem Aufbruch, und kaum denkbar ist es, wie
schnell man sich an das gesunde Wanderleben, sogar an die
elenden, immer neuen Nachtquartiere gewöhnt, die man stets
erst mitten in der Nacht schlaftrunken erreicht
Um vier Uhr treffen wir in aller Ruhe unsere Vorbereitung
zum Aufbruch. Zwei bis drei Männer, die auf der Erde hocken
und ihre Kalyan rauchen, zwei bis drei neugierige kleine
Kinder, ungezählte fröhliche Schwalben, das sind unsere
Zuschauer. Der Räuber wegen stellt das Oberhaupt des Landes
uns vier stark bewaffnete Männer als Schutz, sie geben uns das
Geleite, und so reiten wir hintereinander in einer langen
Reihe unter dem schwarzen, verfallenen Spitzbogen hindurch,
der die Pforte zu diesem zauberhaften Garten bildet.
Wir müssen zuerst Kazeroun durchqueren, das wir gestern
abend noch nicht gesehen haben. Eine kleine Stadt, aus alten
Zeiten; umgeben von Pappeln und grünen Palmen, lebt sie
unverändert weiter. Zwischen den hohen, blühenden Gräsern
tummelt sich gleich am Eingang eine Schar von Kindern – ganz
kleine Knaben, die schon die langen Gewänder und hohen
schwarzen Hüte der Männer tragen – sie spielen mit ihren
Ziegen und wälzen sich in dem Windhafer und zwischen den
Gänseblümchen umher. Die Kuppeln einiger bescheidener weißer
Moscheen ragen hervor. Man sieht die fest verschlossenen
Häuser, auf deren Dächern und Terrassen Gras und Blumen so
üppig sprießen wie in den Wiesen. Das Ganze aber wird
beherrscht von den Gärten, den Orangewäldern, die von hohen,
eifersüchtig schirmenden Mauern mit den alten spitzbogigen
Türen umschlossen sind. Schöne bewaffnete Reiter tummeln ihre
Pferde auf den Straßen. Aber die Frauen gleichen geheimnisvoll
in Trauer gekleideten Schatten, der schwarze Schleier, der
sowohl ihr Gesicht wie auch ihren Körper verhüllt, zeigt kaum
die immer grüne oder gelbe Pluderhose, und die gleichfarbigen
Strümpfe, die oft sehr stramm über den zarten Knöchel gezogen
sind. Wir hatten bis dahin nur die Bäuerinnen mit den
unverschleierten Gesichtern kennengelernt, es ist das erstemal,
daß wir in eine Stadt gelangen, wo sich uns Städter von einem
gewissen eleganten Anstrich zeigen.
Auf der Erde befinden sich noch Plätze, die keinen Rauch,
keine Maschinen, keinen Dampf, keine Hast, die keine
Eisenwerke kennen. Und von allen Winkeln der Welt, die die
Geißel des Fortschrittes verschont hat, kann gerade Persien
sich rühmen, die schönsten zu besitzen – wenigstens will es
uns Europäern so scheinen –, denn die Bäume, die Pflanzen, die
Vögel und der Frühling tragen dort dieselbe Gestalt wie bei
uns, man glaubt kaum in der Fremde zu sein, fühlt sich
vielmehr in der Zahl der Jahre zurückversetzt.
Nachdem wir die letzten Gärten Kazerouns hinter uns
gelassen haben, reiten wir zwei Stunden schweigend durch eine
seltsam fruchtbare und frische Ebene. Gerste, Roggen, Weizen,
grüne Weiden, erinnern in ihrer Üppigkeit an »das Land der
Verheißung«, und ein süßer Duft von Heu und Kräutern
durchschwängert die stille Abendluft . . .
Wir vergessen die Höhe, in der wir uns befinden, als die
Felsen sich plötzlich zu unserer Rechten auftun. Unter uns
liegt eine andere weite Ebene mit einem wundervoll
saphirblauen See, das Ganze wird eingeschlossen von Bergen,
die weniger drohend sind, als die der letzten Tage; sie
erinnern an die wildesten Partien unserer Pyrenäen.
In diesen See verliert sich der Fluß, der aus Ispahan
kommt; als wolle er die Stadt der alten Herrlichkeiten noch
mehr von allem Leben absondern, ergießt er sich in keinen
Strom, mündet er in kein Meer, sondern erlischt hier in diesem
Gewässer, das ohne Abfluß ist, dessen Ufer nicht bewohnt sind.
Von einer ziemlichen Höhe aus beherrschen wir den See und
die Ebene, obgleich auch diese zweifellos ungefähr zweitausend
Meter über dem Meeresspiegel gelegen sind. Und ein seltsam
schwarzes Knäuel hebt sich von den Weiden ab; von hier oben
aus gesehen, könnte man zuerst annehmen, daß es ein
vorüberziehender Insektenschwarm sei, aber es sind Nomaden,
die sich dort zu Legionen mit ihrem Vieh eingefunden haben.
Wie immer, schwarze Kleider, schwarze Zelte, schwarze Herden:
Tausende von Schafen und Ziegen, aus deren Wolle man die
persischen Teppiche, die ungezählten Decken, Säcke, Quersäcke
und Lagergegenstände webt. Jedes Jahr im April findet eine
große Völkerwanderung aller Nomadenstämme nach den
hochgelegenen weidenreichen Ebenen des Nordens statt, und erst
im Herbst steigen die Hirten wieder zu den Ufern des
Persischen Golfs hinunter. Ihre gemeinsame Bewegung hat jetzt
begonnen; mein Tcharvadar kündet mir an, daß ihr Vortrab schon
in den Schlünden, die nach Chiraz zu hinaufführen, uns
voraufgeht, und daß wir uns darauf gefaßt machen müssen,
morgen mit ihnen zusammenzustoßen: es sollen übrigens böse
Gesellen sein, und übel kann man mit ihnen aneinandergeraten.
Die Nacht bricht herein, und von neuem müssen wir uns
zwischen den Felsen einen Weg suchen, der uns sechs- bis
achthundert Meter höher hinaufführen soll, wo die nächste
Etappe gelegen ist. Von unten aus der Ebene, die heute von den
vielen weidenden Tieren, den vielen wilden Hirten überflutet
ist, dringt das Geräusch eines lauten primitiven Lebens zu uns
herauf; man hört die Tiere blöken, brüllen, wiehern, hört die
Hunde heulen, und auch die Männer senden ihre lauten Rufe und
Befehle in die Nacht hinein, oder aber sie schreien nur,
schreien wie Tiere, aus lauter Lebenslust und Lebensübermut,
ohne Ziel und ohne Zweck. Die Luft, die in dem Maße
hellklingender wird, wie die Dämmerung zunimmt, ist
durchzittert von dieser furchtbaren Symphonie.
Überall werden in der Ferne, in den Biwaks der Nomaden
Holzfeuer angezündet, sie verraten uns in diesen vielen
Schlünden, auf diesen vielen Hochebenen die Gegenwart von
Menschen, die man hier nicht vermutete. Wir ziehen mitten
durch die Planetenbahn der wandernden Stämme hindurch, und als
wir zum letztenmal hinabsehen, einen Blick auf die Ebene und
den dunklen See werfen, da leuchten uns ungezählte Feuer
entgegen, und man könnte glauben, dort unten läge eine nimmer
endende Stadt.
Sobald wir aber wirklich in dem nächtlichen Engpaß
vordringen, gibt es weder Lichter noch Stimmen, noch sonst
etwas. Die Nomaden sind noch nicht angelangt, und wir haben
unsere gewohnte Einsamkeit wiedergefunden. Über unseren
Häuptern erheben sich seltsam durchlöcherte Felsen, die
versteinerten Blumen, Sternkorallen oder riesenhaft großen,
schwarzen Schwämmen ähneln. Und von neuem beginnt das
verwegene Klettern der letzten Nächte, der fast senkrechte
Aufstieg inmitten der bröckelnden Felswände. Zwei Stunden
turnen unsere Pferde und Maultiere fast aufrechtstehend die
Treppen über den Abgründen hinan; wieder hört man auf den sich
loslösenden Steinen das Schrammen der beschädigten Hufe, die
sich an jedem Vorsprung anzuklammern versuchen – und wir sind
dem ewigen Stoßen, dem ewigen »Schenkelanziehen« des Tieres
ausgesetzt, wenn es sich mit den Vorderfüßen hochzieht, in
beständiger Angst, herabzugleiten, zurückzurollen, in den
Abgrund hinunterzustürzen. Endlich, um zehn Uhr, werden wir am
Eingange zu einem wiesenreichen Tal, mit seinem sanft sich
neigenden Abhang von allen Strapazen erlöst. Hier liegt eine
kleine, viereckige Festung, in der ein Licht scheint. Es ist
der Stand für die wachhabenden Soldaten, die den Räubern und
Nomaden wehren sollen. Man macht halt, und man tritt ein,
besonders da hier die berittene Begleitmannschaft zu wechseln
ist; wir lassen unsere vier Leute, die uns in Kazeroun
gestellt wurden, zurück und ersetzen sie durch vier andere
ausgeruhte und frische Kräfte.
Im Innern dieser einsamen Festung wurde ein fröhlicher
Abend gefeiert. Um den kochenden Samowar gruppiert, sang man
Lieder und rauchte, und sobald wir eintreten, reicht man uns
in winzigen Tassen Tee. Drei Reisende, drei Reiter mit langen
Gewehren, sitzen dort, sie wollen wie wir nach Chiraz, und
bieten uns ihre Begleitung an, und so brechen wir in einem
großen Trupp auf.
Nach dem schrecklichen Gewirr, dem wir kaum entronnen sind,
ist ein Ritt in diesem neuen Tal, auf einem gleichmäßigen, mit
Blumen übersäten Boden eine wahre Wohltat. Man könnte fast
glauben, daß man sich auf dieser leicht ansteigenden Fläche
einem verzauberten Schlosse näherte, so wunderbar ist der Weg
inmitten des großen Schweigens der Nacht, er gleicht einer
Allee, die man für die Promenaden der Märchenprinzessinnen
gepflanzt hat, einer Allee, eingeschlossen von buntblühenden
Felswänden. Es stehen auch Bäume dort, die in der Dunkelheit
unseren Eichen ähnlich sehen; riesenhaft große Bäume, seit
Jahrhunderten müssen sie dort wachsen. Aber bescheiden stehen
sie in großen Abständen auf dem Rasen, oder bilden vereinzelte
Gruppen, die in ihren Umrissen künstlerisch schön wirken. Auf
dem dichten grünen Teppich hört man nicht mehr den Schritt der
Karawane. Von rechts, von links, von den Wipfeln der Bäume
senden die Sumpfeulen uns vereinzelte kleine Töne herab, Töne,
wie sie eine Schilfflöte hervorzuzaubern vermag. Es wird kühl,
immer kühler, fast ist der Temperaturwechsel zu empfindlich
für uns, die wir kaum den heißen Regionen dort unten
entstiegen sind, aber es erfrischt und verscheucht die
Müdigkeit. Und übervoll weißblühende Sträucher durchschwängern
die Luft mit ihrem süßen Duft. Aber höher als all dieses
stehen die Sterne, sie feiern ein großes, schweigendes Fest
und entfalten eine große, glitzernde Pracht. Und alsbald
beginnt der Regen der Meteore, sie erscheinen weit leuchtender
als sonst, wahrscheinlich, weil wir hier dem Himmel näher
sind, und gleichen kleinen Blitzen, die eine bleibende Bahn
hinterlassen, und manchmal, wenn sie vorüberschießen, glaubt
man, das Geknatter von Gewehrfeuer zu hören.
Von all den Gegenden, durch die wir mitten in der Nacht
geritten sind, und die wir niemals am folgenden Morgen
wiedersehen, die wir uns niemals bei hellem Tageslicht
vorstellen konnten, gleicht auch nicht eine der heutigen; noch
nirgends sind wir einem solchen Frieden begegnet, nirgends hat
das Geheimnisvolle eine ähnliche Gestalt angenommen . . . Die
Majestät der großen Bäume, die kein Windhauch bewegt, das
nimmer endende Tal, die bläuliche Durchsichtigkeit der Nebel
flüstert unserer Einbildungskraft leise einen Traum des
griechischen Heidentums zu: Hier mußte die Heimat der seligen
Schatten gewesen sein, und in dem Maße, wie die Stunden
verrinnen, werden die elysäischen Gefilde, die finster
schweigenden Wälder heraufbeschworen, in denen nur die Toten
ihre Zwiegespräche halten.
Aber um Mitternacht zerreißt plötzlich der Zauber; von
neuem versperren wild zerklüftete Berge unseren Weg, und ein
kleines Licht, das man kaum dort oben unterscheiden kann,
zeigt uns die Karawanserei, die es zu erreichen gilt. Wieder
beginnt das waghalsige Klettern unter dem ohrenbetäubenden
Lärm der Steine, die sich loslösen, die abbröckeln und
herniederrollen, wieder muß man all die Erschütterungen, all
die Stöße auf den unermüdlichen Tieren erdulden, Schritt für
Schritt tasten diese sich vorwärts, gleiten oft mit allen
vieren aus, aber stürzen eigentlich nie ganz zu Boden.
Steigen, immer höher steigen. Seit unserer Abreise sind wir
scheinbar auch zuweilen abwärts gestiegen, denn sonst würden
wir uns jetzt fünf- bis sechstausend Meter über dem
Meeresspiegel befinden, und ich schätze, daß wir höchstens
dreitausend Meter erreicht haben.
Das Nachtquartier nennt sich diesmal Myan-Kotal, es ist
kein Dorf, nur eine Festung, die, wie ein Adlernest auf einer
einsamen Bergspitze errichtet ist; den Reisenden und deren
Tieren bietet sie zwischen ihren dicken Mauern einen sicheren
Schutz gegen die Räuber, das ist aber auch alles.
Wir dringen durch eine Pforte, die sich unmittelbar hinter
uns schließt, in die mit Zinnen versehene Festung ein; überall
liegen Pferde, Maultiere, Kamele, Karawanensäcke bunt
durcheinander. Und von all den aus Lehm erbauten Nischen, die
die Zimmer der Karawanserei vorstellen, ist nur noch eine
einzige frei; diesmal müssen wir also mit den Leuten schlafen,
wir haben nicht einmal so viel Platz, um unsere Feldbetten
aufzuschlagen; übrigens ist es uns ganz gleichgültig, in aller
Eile strecken wir uns der Länge nach auf der Erde aus,
schieben einen Ballen unter den Kopf, decken uns warm zu, denn
die Luft ist eisig, und liegen mit Ali, Abbas und mit den
persischen Dienern durcheinandergewürfelt zusammen. Sofort
überschleicht uns eine unwiderstehbare Müdigkeit und trägt uns
alle in die Bewußtlosigkeit des Schlafes hinüber.