Neuntes KapitelAbowian
Ich hatte nach meiner Rückkehr von Armenien
zu wiederholten Malen an Abowian geschrieben, um ihn an sein
Versprechen zu erinnern, mir eine Fortsetzung der kurdischen
Volkslieder und der in tatarischer Sprache geschriebenen
Gedichte des Keschisch-Oglu zu schicken. Er wußte, daß es in
meiner Absicht lag, eine deutsche Uebersetzung davon zu
veranstalten und ihm die daraus entspringenden pekuniären
Vortheile zur Verbesserung seiner bedrängten Lage zuzuwenden.
Es war mir deshalb unerklärlich, daß alle meine Briefe
unbeantwortet blieben, bis ich vor Kurzem zufällig die
traurige Ursache erfuhr. Ein alter Bekannter von mir und mein
Lehrer der kleinrussischen Sprache, Staatsrath Roskovschenko
aus Tiflis, der mich diesen Sommer auf einer Badereise in
Berlin besuchte, theilte mir mit, daß Abowian schon seit ein
Paar Jahren verschollen sei, ohne daß man, trotz aller
Nachforschungen, eine Spur von ihm entdeckt habe.
Roskovschenko, der frühere Vorgesetzte Abowians, war veranlaßt
worden, ihn nach Tiflis zu ziehen, um ihm hier eine bessere
Stellung zu verschaffen. Ein georgischer Hülfslehrer vom
Gymnasium zu Tiflis, Turkistanow, wurde nach Eriwan entsendet,
um Abowian einstweilen zu vertreten. In Eriwan angekommen,
erfährt er, daß Abowian ganz gegen seine Gewohnheit am frühen
Morgen das Haus verlassen habe und noch immer nicht
zurückgekehrt sei. Turkistanow wiederholt am folgenden Tage
seinen Besuch, und findet die Frau Abowian's in Thränen
aufgelöst; sie hat in der ganzen Nacht umher nach ihrem Manne
gesucht; keiner weiß von ihm, keiner will ihn gesehen haben.
Seit jenem Tage ist er verschwunden und man hat nie wieder
etwas von ihm gehört.
Wahrscheinlich hat er sich selbst den Tod gegeben, denn
schon zu der Zeit, wo ich ihn kennen lernte, war er in einer
sehr trüben und hoffnungslosen Stimmung, welche noch vermehrt
wurde durch seine traurigen Begegnisse mit Professor Abich
von Dorpat, dem er bei dessen Ersteigung des Ararat als
Führer beigegeben war. Das hochfahrende Benehmen, zu welchem
sich Abich berechtigt glaubte, weil er auf der russischen
Rangleiter ein paar Stufen höher stand als Abowian, gab
Veranlassung zu Mißhelligkeiten, die in ihren Folgen den armen
Armenier an den Rand der Verzweiflung brachten. Abowian
übersandte mir später seine Tagebücher aus jener Zeit, mit der
Bitte, dieselben unter dem Titel »Nachträge und Erläuterungen
zu der Besteigung des Ararat durch Professor Abich« zu
veröffentlichen. –
In wohlmeinendster Absicht erfüllte ich diese Bitte nicht,
weil nach meiner Ueberzeugung die persönlichen
Angelegenheiten, welche den Haupt-Inhalt jener Tagebücher
bilden, nicht wohl vor das Forum der Oeffentlichkeit gehören,
und weil ich ferner durch die Veröffentlichung Beiden nur
geschadet haben würde. So sind denn die Tagebücher bis zu
dieser Stunde in meinen Händen geblieben, da sich keine
sichere Gelegenheit fand, sie wieder nach Eriwan zu
befördern . . .
In seinem letzten Briefe schrieb mir Abowian, daß er
entschlossen sei, den russischen Staatsdienst zu verlassen, um
sich in das Innere von Armenien zurückzuziehen und dort nach
der Weise seiner Vorfahren vom Ackerbau zu leben, da sein
geringes Einkommen den Bedürfnissen der Stadt nicht genügte
und ein längeres Warten auf etwaige Verbesserung seiner Lage
ihn nur noch tiefer in's Elend stürzen würde.
Es waren schlimme Erfahrungen, die den talentvollen und
strebsamen Mann zu diesem Entschlusse gebracht hatten. Seine
Lebensgeschichte ist zu merkwürdig, als daß ich es unterlassen
könnte, einige Züge daraus mitzutheilen.
Abowian wurde zu Anfange dieses Jahrhunderts in einem Dorfe
bei Eriwan, dessen Namen ich vergessen habe, von armen Eltern
geboren Da er von Kindesbeinen an eine große Lernbegierde
zeigte, so kam er schon sehr früh in das Kloster von
Etschmiadsyn, um dort zum Geistlichen ausgebildet zu werden.
In diesem altberühmten Patriarchensitze am Fuße des Ararat
herrschte damals der Katholikos Jephrem (d. i. Ephraim) ein
kalter, hochfahrender Mann, der in Bezug auf Formen und
Aeußerlichkeiten unter den Mönchen und Zöglingen des Klosters
ein strenges Regiment führte, aller wahren Kultur und
Wissenschaft aber von Herzen gram war. Mit seinen eigenen
Kenntnissen that er immer sehr geheim, und als die
gelehrtesten seiner Bischöfe und Mönche galten diejenigen,
welche es zu einem nothdürftigen Verständniß der
altarmenischen Bibelübersetzung gebracht hatten.
Zu jener Zeit trug das Kloster noch nicht die Maske
europäischer Kultur, die es seit dem Besuche einzelner
Mitglieder der kaiserlichen Familie angethan hat. Abowian
erzählte mir und R., als er uns nach Etschmiadsyn begleitete,
daß es ihn immer eiskalt überlaufe, wenn er die alten Gemäuer
betrete, so schauerlich seien die Eindrücke gewesen, die er in
früher Jugend dort empfangen und die sich nie wieder aus dem
Gedächtniß verwischen ließen. Verschiedene Fluchtversuche, auf
welchen man ihn ertappt hatte, gaben Veranlassung, daß ihm
eine noch strengere Behandlung zu Theil wurde als vorher
schon.
So wuchs er heran unter Weinen, Beten und Fasten, in einer
rohen, für alles Edle abgestumpften, in unnatürlichen Lüsten
verkommenen Umgebung, ohne anderen Gewinn davon zu tragen, als
eine nothdürftige Kenntniß der altarmenischen Sprache. Er
hatte es bis zum Diakon gebracht, als der berühmte Dorpater
Professor Parrot im Jahre 1829 nach Armenien kam, um Versuche
zu einer Ersteigung des Ararat zu machen. Der Zufall führte
ihn mit Abowian zusammen, der auf Parrot einen so günstigen
Eindruck machte, daß dieser die Schwierigkeiten nicht scheute,
ihn zum Reisegefährten zu gewinnen, nachdem die andern
Schwierigkeiten, welche die hohe Geistlichkeit jedem Versuche
einer Ersteigung des Ararat entgegenzusetzen für ihre Pflicht
hält, glücklich überwunden waren.
Der erste Versuch, welcher ohne Abowian unternommen wurde,
mißglückte. Daß Parrot bei der zweiten Ersteigung zu einer
Höhe von 15,138 Par. Fuß kam und endlich beim dritten Versuche
(26–28sten September) wirklich die bis dahin seit der
Sündfluth von keines Menschen Fuß betretene Spitze des Ararat
erreichte, hatte er zum großen Theil den Anstrengungen und der
Umsicht Abowians zu verdanken.
Der deutsche Gelehrte faßte eine lebhafte Zuneigung zu dem
jungen Armenier und nahm ihn nach seiner Rückkehr in die
Heimath mit nach Dorpat, wo er Vaterstelle an ihm vertrat und
ihn sechs Jahre lang auf seine Kosten studiren ließ.
Diese sechs Jahre bildeten die Glücksperiode im Leben
Abowians. Er sah eine neue Welt vor sich aufgethan und erfaßte
Alles mit so regem Eifer und so frischer Empfänglichkeit, daß
er sich bald vollkommen heimisch fühlte in seiner deutschen
Umgebung. Die bedeutenden Sprachkenntnisse welche er sich in
jener Zeit erwarb, legten eben so günstiges Zeugniß ab von
seinen geistigen Fähigkeiten, wie die große Anhänglichkeit und
Dankbarkeit welche er seinen Lehrern bewies, seinem Herzen zur
Ehre gereicht. Seine Dankbarkeit erstreckte sich auf Alles was
einen deutschen Namen trug, und wie er nach seiner Rückkehr in
die Heimath keine Gelegenheit entschlüpfen ließ, den deutschen
Reisenden welche den Kaukasus und Armenien besuchten, nützlich
zu sein, so sah er es auch als seinen Lebenszweck an, deutsche
Kultur und Sprache unter Georgiern und Armeniern zu
verbreiten. Ueber hundert junge Asiaten hatte er zu der Zeit
wo ich ihn kennen lernte (1844) soweit gebracht, daß sie sich
mündlich und schriftlich mit Geläufigkeit in der deutschen
Sprache ausdrücken konnten. Er verlebte nach seiner Rückkehr
von Dorpat eine Reihe von Jahren in Tiflis, wo er sich
ausschließlich mit der Bildung seiner jungen Landsleute
beschäftigte, aber, zu uneigennützig und zu wenig praktischer
Natur, um den alten Grundsatz: der Arbeiter ist seines Lohnes
werth, in nöthiger Ausdehnung auf sich selbst anzuwenden, bald
in pekuniäre Verlegenheiten gerieth, welche die Quelle
unendlicher Trübsal für ihn wurden. Mirza-Schaffy sagte einmal
treffend von ihm »Abowian awalindshe Armeninder, kje Armenin
jochter« ein Satz, der den doppelten Sinn hat: Abowian ist der
erste Armenier, der kein Armenier (d. h. kein habgieriger und
bestechlicher Mensch) ist; und: Abowian ist der Erste
Armenier, weil er kein Armenier ist (in der schlimmen
Bedeutung des Worts). Auf Verwendung seiner Dorpater Freunde
erhielt Abowian, der sich inzwischen mit einer Deutschen
verheirathet hatte, eine Stelle als Inspektor der Kreisschule
zu Eriwan, aber mit einem so dürftigen Gehalte, daß er sein
Leben nur kümmerlich davon fristen konnte.
Ich habe schon öfter Gelegenheit genommen zu bemerken, daß
die Gehalte in Rußland immer auf ein weites Gewissen der
Beamten berechnet sind. Leute welche ein solches
Staatsgewissen haben, führen durchgängig ein angenehmes Leben
und geben oft mehr für ihre Dienerschaft aus, als das ganze
Gehalt beträgt, während Andere, die sich aus Furcht oder
Ehrlichkeit nicht in die Verhältnisse zu schicken wissen, nie
auf einen grünen Zweig kommen.
Zu dieser letzteren Klasse gehörte Abowian. Er war zu
ehrlich, um den gewöhnlichen russischen Weg der Bereicherung
einzuschlagen, und alle Versuche, seine vielen
wissenschaftlichen Arbeiten zu verwerthen, mißglückten So
hatte er z. B. mit großem Fleiß und Zeitaufwand eine Grammatik
und ein Wörterbuch der neuarmenischen Sprache, wie sie heute
im Munde des Volkes lebt, ausgearbeitet und nach Petersburg
eingesendet, in der Hoffnung, daß die Akademie der
Wissenschaften das Werk auf ihre Kosten zum Druck befördern
und ihn durch eine mäßige Unterstützung zu weiteren Arbeiten
ermuthigen werde.
Seine Erwartung schlug fehl. Die Akademie verwies das Werk
an ihr für sachverständig gehaltenes Mitglied Herrn Brosset
den Jüngern, und Herr Brosset erklärte in einem langen
Gutachten, daß das Werk zwar ein reiches Material enthalte,
daß demselben aber alle wissenschaftliche Grundlage und
Eintheilung fehle.
Wie komisch auch ein solches Urtheil gerade aus dem Munde
des Herrn Brosset klingen mag, dessen georgische Grammatik
weder ein reiches Material noch eine Spur von
wissenschaftlicher Grundlage und Anordnung enthält, so hatte
es doch für Abowian die traurigsten Folgen. Alle Hoffnungen
welche er an das, unter langjährigen Mühen und Sorgen
vollendete Werk geknüpft hatte, waren mit Einem Federzuge
vernichtet, und es war ihm zugleich die Möglichkeit genommen,
seine übrigen Arbeiten zu vollenden. Spätere einflußreiche
Verwendungen von sachverständigen Leuten blieben aus
politischen Gründen erfolglos.
Es lag nämlich in der Absicht Abowians, und alle seine
Arbeiten liefen darauf aus, eine neuarmenische Literatur zu
gründen und solchergestalt der Entwickelung seiner Landsleute
eine nationale Basis zu geben. Ich habe schon früher bemerkt,
daß das Alt-Armenische längst zu einer todten oder
Gelehrtensprache geworden, deren reiche literarische Schätze
im Lande selbst nur wenigen Auserlesenen zugänglich sind. Das
Beste von diesen Schätzen wollte Abowian, mit Beibehaltung der
alten Schriftzeichen, in die neu-armenische Sprache
übertragen, als sicherstes und bequemstes Mittel, um Bildung
unter seinen Landsleuten zu verbreiten und wissenschaftlichen
Sinn unter ihnen zu wecken. Waren doch früher selbst die
Gebildeteren des Volks genöthigt gewesen, die Bibel in einer
türkischen, mit armenischen Buchstaben umkleideten
Uebersetzung zu lesen, bis dem Uebel durch Dietrich's
Versuch einer neu-armenischen Bibelübersetzung theilweise
abgeholfen wurde.
Abowian hätte, mit Hülfe seiner tüchtigsten Schüler, durch
Uebersetzungen aus dem Alt-Armenischen und aus den
europäischen Sprachen, binnen wenigen Jahren eine den
augenblicklichen Bedürfnissen des Volks genügende Literatur
in's Leben rufen können, wenn seine Pläne nicht von Petersburg
aus absichtlich vereitelt wären.
Die russische Regierung strebt darnach, in den Ruf einer
Beschützerin der Wissenschaften und Künste gebracht zu werden.
Sie verschwendet gern die größten Summen an die
unbedeutendsten Menschen, wenn diese nur mit guten
Empfehlungen versehen sind. Sie sieht es gern und belohnt
es mit Rang und Orden, wenn man in Petersburg kalmückische und
kirgisische Grammatiken für Franzosen schreibt. Sie hat nichts
dagegen, daß man die alten pontischen Königsgräber aufwühlt
und die ausgegrabenen Statuen in Museen ausstellt. Sie hat
ebenso wenig dagegen einzuwenden, daß ihre Archäologen diesen
Statuen Köpfe und Beine abschlagen (wie das wirklich
vorgekommen), um sie bequemer in Kisten verpacken zu können,
zur Versendung nach Petersburg.
Aber jede vom russischen Katechismus abweichende nationale
Entwickelung ist ihr ein Dorn im Auge. »Wenn die Armenier sich
bilden wollen, so mögen sie russisch lernen, und wenn sie
beten wollen, so mögen sie russisch beten,« sagte General S.,
einer der Mitdirigenten der moskowitischen Volksaufklärung.
Man wird es hienach begreiflich finden, daß Abowian, trotz
aller Ausdauer und Tüchtigkeit, mit seinen Bestrebungen nicht
durchdringen konnte in Rußland.
***
Die wenigen Zeilen, welche ich meinem armenischen Freunde
als Nachruf widmen wollte, sind unversehens zu einem ganzen
Kapitel angewachsen. Ich fürchte nicht, den Unwillen des
deutschen Lesers dadurch erregt zu haben.
Abowian, der so viel dazu beigetragen, den deutschen Namen
im fernen Orient zu Ehren und Ansehen zu bringen, verdient es,
daß sein eigener Name in Deutschland zu Ehren und Ansehn
komme.