Der 11.September 2001
Der
11. September 2001 war für mich ein ganz normaler Arbeitstag,
bis ich über das Internet und Kollegen gleichzeitig erfuhr,
was geschehen war. Für mich war sofort mehr als klar, dass
hier ein Weltkrieg eingeläutet werden sollte, was ich einem
Kollegen spontan sagte und dann frühzeitig nach Hause ging, da
ich die Geschehnisse live über das Fernsehen verfolgen wollte.
Das Internet war diesbezüglich schon wegen Überlastung
zusammengebrochen. Viele Fragen stellten sich an den Tagen und
auch später, aber es waren keine spezifisch muslimischen
Fragen, die gleichen Fragen wurden auch von bekannten Personen
wie dem ehemaligen Bundesminister v. Bülow und vielen anderen
gestellt, die dann als “Verschwörungstheoretiker“ diffamiert
wurden. In Berlin wurden sogar Konferenzen bezüglich der
unbeantworteten Fragen abgehalten. Die Diskussionen über die
Hintergründe füllen inzwischen auch Tausende von
Internetseiten und Bestseller. Für uns aber änderte sich
schlagartig eine ganze Welt. Was mein Bruder an dem Tag auf
einem Kongress erlebte, war schon tragisch genug:
Ich
war am 11. September 2001 gerade auf einer wissenschaftlichen
Tagung in Aachen. Während einer Pause kam ein guter Bekannter
zu mir und fragte mich, ob ich es schon gehört hätte.
Natürlich hatte ich noch nichts gehört. Dann erzählte er mir,
was er wusste. Während dessen wurde schon ein Fernseher
aufgebaut. Alle versammelten sich um diesen und verfolgten die
Live-Berichterstattung. Sie wiederholten gerade den Einschlag
des zweiten Flugzeugs. Kaum zu glauben, aber gleich darauf
wurde das Bild von USAma Bin Laden gezeigt. Ich hatte noch
nicht ganz verstanden. Gab es ein Bekennerschreiben, woher
wussten sie das? Aber es war zu laut, als dass ich etwas
Zusammenhängendes verstehen konnte. Stattdessen rief plötzlich
einer aus der Gruppe, diese Araber sollten wir alle erledigen.
Viele sagten nichts, einige stimmten zu. Da ich die Situation
nicht erfassen konnte und nicht wusste, was noch passieren
würde, habe ich mich zu meiner Chefin gedreht, die neben mir
stand und sie gefragt, ob ich nicht besser gehen sollte. Ich
bin zwar kein Araber, aber ich glaube, im Ernstfall hätte ich
kaum Zeit, meinen Ausweis zu zeigen. Sie schätzte die
Situation genauso ein und riet mir noch, vorsichtig zu fahren.
Während der ganzen Autofahrt hörte ich Radio. Ich war
sicherlich genauso fassungslos wie jeder andere, der es im TV
gesehen hatte. Zudem wurde mir zunehmend klarer, was in etwa
die Folgen dieses Anschlags sein würden, und welche
Zivilbevölkerung mal wieder leiden werden würde.
Was
war das für eine Welt, in der man sich sogar in Deutschland
selbst gegenüber Akademikern und promovierten Intellektuellen
unsicher fühlen musste. Eines war bereits an den ersten Tagen
klar: Nie wieder würde mein Verhältnis zu den Arbeitskollegen
so unbeschwert wie vorher sein können. Zwar ließen sie es sich
nicht anmerken und unterdrückten es bestmöglich, aber irgendwo
im Unterbewusstsein schlummerte doch der Gedanke: „Dieser
Fundamentalist gehört irgendwie dazu“. Das wurde dann auch bei
jeglicher Äußerung meinerseits bei den Diskussionen in der
Mensa – aus denen ich mich im Wesentlichen heraushielt –
deutlich. Ich erinnere mich noch über eine Bemerkung
meinerseits über die merkwürdigerweise unversehrt
aufgefundenen Pässe der angeblichen Terrorpiloten – eine
Bemerkung, welche zu Entrüstungen einiger Kollegen führte. Nur
wenige Telepolis-Leser
im Institut waren kritischer. Die Mehrheit – auch unter der
ausgebildeten Elite des Landes – war der einhelligen Meinung,
dass der “muslimische Extremismus“ hinter den Anschlägen
stand.
Die Meldungen
über ungebührliches Verhalten von Deutschen gegenüber den
Muslimen häuften sich, und die Sicherheitsbehörden taten ihr
Übriges, um Muslime einzuschüchtern. So wurde auch ich als
Vorsitzender des Islamischen Weg e.V. zu einem freiwilligen
Gespräch in die Polizeibehörde von Delmenhorst gebeten. In
einem sterilen Raum hatten sich zwei Beamte aufgebaut und
fragen mich, ob ich Terroristen kennen würde. Ich versuchte
stets sachlich zu bleiben. Es war zwar ein sehr höfliches und
für alle Beteiligten sicherlich hilfreiches Gespräch, und ich
bin letztendlich auch dankbar dafür, aber es stand jetzt
endgültig fest: Der 11. September bedeutete, dass alle Muslime
zumindest Verdächtige sind! Der Rede führende Beamte, nennen
wir ihn hier Herr Meyer,
drückte mir seine Visitenkarte in die Hand. Er würde immer zur
Verfügung stehen, wenn ich einen Ansprechpartner benötige.
Sechs Jahre später sollte ich auf jene Visitenkarte
zurückgreifen. Aber zunächst bleiben wir im September 2001.
Denn nicht alle
Reaktionen waren feindselig oder misstrauisch. Am
Freitag-Abend nach dem 11. September standen unsere
(nichtmuslimischen) Nachbarn mit Thermosflaschen voller Tee
und Kaffe sowie Kuchen in den Händen vor unserer Haustür, um
uns ihre Solidarität zu bekunden. Irgendwie spürten sie wohl,
was auf uns als Muslime zukommen wird. Das war schon eine
herzliche nachbarschaftliche Solidarität. Und was meine
Ehefrau Fatima mitten in einem Supermarkt erlebt hat, ist
sicherlich unter die Kategorie “sensationell“ zu bezeichnen:
Während sie Ausschau nach einer Ware hielt, kam eine als
“ältere Generation“ zu bezeichnende Dame auf sie zu. Die Dame
war Fatima völlig unbekannt. Es sei erwähnt, dass Fatima als
Muslima durch ihre Kleidung leicht erkennbar ist. Völlig
überraschend umarmte die Dame meine verdutzte Ehefrau und
sagte zu ihr: „Jetzt müssen wir zusammen halten“, und
ging dann wieder weiter. Das extreme Weltereignis hatte die
extremen Gefühle der Menschen in alle Richtungen bloß gelegt!
Wir ahnten damals
schon, dass einige Katastrophen bevorstehen würden, und mit
den Raubzügen durch Afghanistan und den Irak haben die USA
auch jedem Menschen deutlich gemacht, welches Recht ab sofort
in der Welt herrschen sollte, das Recht der Waffen, wie zu
besten Wild-West-Zeiten. Israel machte es dann mit dem zweiten
Libanonfeldzug und dem einzigartigen Gaza-Massaker nach.
Unmittelbar nach dem
Ereignis in den USA fragte die Zeitschrift “Stern“ bei uns an,
ob wir bereit zu einem Interview wären. Aus den Erfahrungen
heraus waren wir sehr skeptisch eingestellt. Wir haben erst
dann zugesagt, als uns versichert wurde, dass wir den
endgültigen Text auch sehen könnten und er nur mit unserer
Zustimmung abgedruckt werden würde. In aller Eile kam schon am
Donnerstagnachmittag, also nur zwei Tage nach dem 11.
September, ein Sternreporter mit der Bahn nach Bremen. Wir
trafen uns nah meiner Arbeit in der Cafeteria des
Überseemuseums in unmittelbarer Nähe des Bremer Hauptbahnhofs.
Und er stellte sehr viele Fragen. Nach einem sehr informativen
und in einer konstruktiven und freundlichen Atmosphäre
geführten Gespräch fuhr besagter Reporter (dessen Namen wir
hier nicht erwähnen möchten, um ihn zu schützen,) wieder heim
und mailte, wie abgesprochen, den Text zu uns herüber. Wir
sollten den Text von uns aus in “ich“-Form formulieren, da in
der Montags-Sonderausgabe verschiedene Muslime zu Wort kommen
sollten. Der übereifrige junge Reporter sandte uns aber auch
noch einen Fotografen nach Hause, der die notwendigen
Aufnahmen machen sollte, welcher auch noch am Abend kam. Wir
hatten keine Bedenken am endgültigen Text und bedankten uns,
wobei wir uns auf den unten wieder gegebenen Text geeinigt
hatten. Allerdings hatte ich den jungen Journalisten gleich
mehrfach darauf hingewiesen, dass der Text sicherlich nicht
abgedruckt werden würde, da die hiesigen etablierten Medien
niemals zulassen würden, Meinungen abzudrucken, die der
allgemein verbreiteten Version derart widersprachen, und das
zu einem so frühen Zeitpunkt. Wir waren uns der Zensur aus
Erfahrung sicher. Aber der Journalist war sich seiner Sache
auch sicher:
[Anfang des Textes 14.11.2001]
Als ich die schrecklichen Bilder am
Dienstag sah, wusste ich sofort: Jetzt kommen schwere Zeiten
auf die Muslime zu. Überall in der Welt, auch in Deutschland.
Wir sind nun Zielscheibe weltweiten Hasses.
Bald nach dem Attentat erreichten mich Meldungen von
Glaubensgeschwistern aus meiner Umgebung. Eine Schwester wurde
angespuckt, eine kleine Schülerin von ihrem Lehrer morgens so
begrüßt: „Na, hast du mitgefeiert?“ Ich weiß von Muslimen, die
sich nicht mehr auf die Straße trauen, von anderen, dass sie
ihr Kind nicht mehr zur Schule lassen. Manche haben Angst.
Viele aber, wie auch ich selbst, haben keine Angst. Wir
vertrauen auf Gott. Unsere Bekannten riefen wir zur Mäßigung
auf. Bekämpft Hass mit Liebe, sagten wir ihnen. Der Islam ist
eine Religion des Friedens und der Menschlichkeit. Aber er ist
auch kämpferisch, wenn es gegen Unterdrücker geht. Zuerst habe
ich gedacht, dass diejenigen, die das angezettelt haben, den
dritten Weltkrieg wollen. Nach dem ersten Schock kam mir Nero
in den Sinn: Er ließ einst Rom anzünden und warf dann die
Christen den Löwen zum Fraß vor. Das Volk jubelte, weil es
Neros Version glaubte. Damals waren die Christen die
Terroristen. Die heutigen Arenen sind die Medien. Und wieder
jubelt das Volk, weil ja angeblich die Schuldigen gefunden
sind: die Muslime.
Manche Arbeitskollegen haben sich am Morgen danach sehr
reserviert verhalten. Am nächsten Tag konnten wir zum Glück
darüber diskutieren. Ich habe sie darauf hingewiesen, dass
ihre Gedanken nicht von ihnen stammen. Denn die Deutschen sind
selbst Opfer einer einseitigen Nachrichtenlage. Die Amerikaner
bestimmen, was sie zu denken haben. Ich vergebe daher dem
einfachen Bürger auf der Straße, wenn er unsere Kopftuch
tragenden Schwestern bespuckt. Es gibt genug Wasser, um das zu
reinigen. Er weiß es nicht besser. Böse bin ich Journalisten
und Politikern, die nicht den Mut haben, die Wahrheit zu
sagen. Denn die von den westlichen Medien sogenannten
fanatischen Extremisten wie Bin Laden oder Saddam Hussein sind
nicht unsere Leute. Das sind eure Leute, wie auch die Könige
und Prinzen in Saudi Arabien. Das sind die Könige des Westens.
Es sind lauter Männer, die von Amerikanern ausgebildet wurden
und jetzt muslimische Völker unterdrücken. Wir sagen
“US-Islam“ zu diesem Konstrukt. Weil es derjenige Islam ist,
den die US-Regierung haben möchte - um ihn bekämpfen zu
können.
Bis Mittwochabend schien Deutschland
in die von den USA gleichgeschaltete Einheitsfront eingereiht.
Aber danach hörte ich auch kritische Stimmen. Von besonnenen
Leuten wie Helmut Schmidt, die nicht alles glauben, was dort
verkündet wird. Die Präzision und die Skrupellosigkeit, mit
der diese Attentate durchgeführt wurden, waren unvorstellbar.
Wer steckt dahinter? Diese Verbrechen nutzen weder Muslimen
noch Christen, weder Amerikanern oder Europäern, weder
Afghanen noch Irakern und schon gar nicht den armen
Palästinensern. Es gibt nur ein Land, das profitiert. Jedes
Schulkind hätte die Folgen dieser Tat vorhersagen können. In
den darauffolgenden Nächten wurden die palästinensischen
Gebiete brutal besetzt, während die Welt nach New York
schaute. Deutschland ist im Vergleich ein Land, in dem Moslems
nicht als unterdrückt zu bezeichnen sind. Ich weiß von meinen
Nachbarn und Arbeitskollegen, dass sie letztendlich unsere
Anwesenheit begrüßen. Wie es für uns wird, wenn die Situation
eskalieren sollte? Das hängt davon ab, wie die deutschen
Politiker reagieren. Ob sie kritiklos jede Schandtat der
Amerikaner mitmachen. Dann wird es uns übel ergehen. Dann
werden wir uns überlegen müssen, ob wir hier bleiben können,
oder Deutschland verlassen. Aber ich hoffe inständig, dass es
in diesem Land genügend Freigeister gibt, die sich wehren
werden. Vor uns steht eine Prüfung, die wir nur gemeinsam -
Muslime und Nicht-Muslime - bestehen können.
Dr. Yavuz Özoguz, 42, betreut als
Webmaster die Homepage www.muslim-markt.de, die größte
deutschsprachige muslimische Diskussions-Plattform im
Internet. Er wurde in Istanbul geboren, wuchs in Hamburg auf
und arbeitet als Oberingenieur an einem Institut für
Umwelttechnik in Bremen. Özoguz ist deutscher Staatsbürger.
Aufgezeichnet von...
[Ende des Textes]
Am 14.9.2003 erhielt ich dann folgende
e-Mail von dem Journalisten, der offensichtlich augrund
fehlender Erfahrung noch gar nicht um die “Auswahlverfahren“
solcher Texte wusste.
[Anfang der e-Mail]
Lieber Herr Dr. Özoguz,
gerade erreichte mich die Nachricht,
dass Chefredakteur Petzold Ihren Text zwar bemerkenswert fand
- aber Probleme hat, ihn zu drucken, aufgrund zweier, dreier
Passagen. Sie hatten es ja schon geahnt. Für Sie und mich
bedeutet das: So wie es aussieht, wird er in der kommenden
Montagausgabe nicht enthalten sein. Ich aber und Ressortleiter
... vorneweg, werden darum kämpfen, dass er nächsten
Donnerstag im dann aktualisierten Stern zu finden sein wird.
Meine Ansicht ist die: Ihre Meinung passt natürlich nicht in
die politische Linie des Blattes, sie ist aber unbedingt
anhörenswert und lesenswert.
Wir werden sehen. Sie hören von mir
auf jeden Fall.
Bis dahin eine gute Zeit und schöne
Grüße nach Bremen, Ihr.....
[Ende der e-Mail]
Selbstverständlich erschien der Text auch
in der Donnerstagsausgabe nicht. Dennoch war es unsere
Hoffnung, dass die ganze Geschichte zumindest für den
Journalisten hilfreich sein konnte. Und sicher war unsere
Meinung nicht die einzige muslimische, die zensiert wurde.