Gedichte im Islam
Das niedre Grab

von
Friedrich Rückert

Das niedre Grab.

 Mit meinem Meister, Ibrahim Ben Edhem,
Gieng ich durchs Feld (erzählt von ihm ein Jünger),
Da kamen wir zu einem niedern Grabe,
Da stand er still, und betete und weinte.
Ich aber fragte: Wessen Grab ist dieses?
Er sagte: Des Homeid Ben Gabir, weiland
Gebieters aller dieser Städt’ und Flecken.
Im Meer der Lüste dieser Welt versunken
War er, da hat ihn gnädig Gott gerettet.
Denn als er einst nach frohverlebtem Tage
Schlief in der Nacht, sah er an einem Lager
Zu Häupten einen Mann, der in der Hand ihm
Darreichte einen offnen Brief, er nahm ihn,
Und las, in Gold auf dunklem Grund geschrieben:

Schätze nicht das Eilende
Über das Richtige!
Setze nicht das Richtige
Über das Wichtige!
Was du hast, wär’ überschwänglich,
Wär’ es nicht vergänglich;
Deine Rast wär’ ein Behagen,
Erwachest du nicht zu Klagen;
Dein Palast hätt’ ein festes Tor,
Stände nicht pochend der Tod davor.
Halte dich nicht geborgen,
Denke heut an dein morgen!

Da wacht’ er auf in Todesahnung:
Das ist vom Herren eine Mahnung!
Riefs, und aus seinem Fürstenhaus
Zog er hier in die Wüst’ heraus,
Lebt’ unbekannt, und starb; man gab
Ihm, wo er starb, dis niedre Grab.

Aus: Sieben Bücher Morgenländischer Sagen und Geschichten

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