Gedichte im Islam
Ich hör Istanbul

von Orhan Veli, übersetzt von Prof. Annemarie Schimmel

Ich hör Istanbul mit geschlossenen Augen;
Eben weht sachte der Wind;
Es rühren sich leise und lind
An den Bäumen die Blätter.
Fern, ganz in der Ferne
Die niemals ruhenden Glöckchen der Wasserträger;
Ich hör Istanbul, mit geschlossenen Augen;

Ich hör Istanbul, mit geschlossenen Augen;
Es fliegen wohl Vögel vorüber.
Hoch in der Luft in Scharen und schreiend und  schreiend.
In den Reusen werden die Netze gezogen,
Frauenfüße, die leicht ins Wasser tauchen -
Ich hör Istanbul, mit geschlossenen Augen.

Ich hör Istanbul mit geschlossenen Augen;
Der kühle kühle Bazar,
Mahmutpascha zwitschernd und zirpend,
Die Höfe von Tauben erfüllt.
Und Hammerstimmen kommen von den Docks,
In dem geliebten Frühlingswind ist Schweißgeruch.
Ich hör Istanbul mit geschlossenen Augen.

ich hör Istanbul, mit geschlossenen Augen;
Den Rausch alter Welten noch in sich tragend
Mit dunklen Bootsschuppen ein Haus am Strand,
Im Rauschen mattgewordener Südwinde
Hör ich Istanbul, mit geschlossenen Augen.

Ich hör Istanbul, mit geschlossenen Augen;
Ein hübsches Mädel geht über das Pflaster,
Und Flüche und Sänge und Lieder, Geschwätz,
Aus seiner Hand fällt etwas zu Boden,
Gewiss eine Rose.
Ich hör Istanbul mit geschlossenen Augen.

Ich hör Istanbul, mit geschlossenen Augen;
Ein Vogel zappelt in seinem Saum;
Ob seine Stirn heiß oder nicht, ich weiß es;
Ob seine Lippen feucht oder nicht, ich weiss es.
Hinter den Pinien hebt sich ein weißer Vollmond,
Merke ich aus dem Schlag seines Herzens -
Ich hör Istanbul

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